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Lehr-Fallstudien: Brandenburg Fall A

Im Koalitionsvertrag von 2005 hielten die damaligen Brandenburger Regierungsparteien SPD und CDU erstmals fest, dass Nachhaltige Entwicklung in allen Fachpolitiken mehr Berücksichtigung erfahren müsse. Um dem Programm des Koalitionsvertrags Rechnung zu tragen, berief der damalige Umweltminister Dr. Dietmar Woidke im Jahr 2007 – zur Mitte der Legislaturperiode – erstmals den Beirat für Nachhaltige Entwicklung und Ressourcenschutz ein.

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Professor Stock freute sich und nutzte einen Moment der Ruhe an diesem Tag im April 2010. Gerade war der renommierte Wissenschaftler des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) für eine zweite Amtszeit zum Vorsitzenden des Brandenburger Beirats für Nachhaltige Entwicklung gewählt worden. Zufrieden nahm er die allseitigen Glückwünsche entgegen und bedankte sich für das abermalige Vertrauen in seine Person. Der letzte Beirat für Nachhaltige Entwicklung hatte in seinen Augen gute Arbeit geleistet, und er freute sich schon darauf, diese Arbeit fortzuführen. Gleichwohl musste er sich überlegen, wie die zukünftige Kommunikation und die inhaltlichen Schwerpunkte des Beirats aussehen sollten. Aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen wusste er, dass es sich dabei um keine leichte Aufgabe handelte. Schon allein die Frage, was man unter Nachhaltigkeit verstehen kann und was sich in der Umsetzung tatsächlich als nachhaltig herausstellt, hat in der Vergangenheit zu regelmäßigen Kontroversen unter Beiratsmitgliedern, aber auch zwischen dem Beirat und der Politik geführt. Professor Stock blickte auf die letzte Amtszeit zurück und ließ einzelne Ereignisse Revue passieren. Was könnte man aus der Vergangenheit für die nächste Amtszeit lernen? Wie könnte der Beirat zur Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie beitragen? Welche Schwerpunkte sollten gesetzt werden?
 
Der Beirat für Nachhaltige Entwicklung und Ressourcenschutz
Im Koalitionsvertrag von 2005 hielten die damaligen Brandenburger Regierungsparteien SPD und CDU erstmals fest, dass Nachhaltige Entwicklung in allen Fachpolitiken mehr Berücksichtigung erfahren müsse.[1] Um dem Programm des Koalitionsvertrags Rechnung zu tragen, berief der damalige Umweltminister Dr. Dietmar Woidke im Jahr 2007 – zur Mitte der Legislaturperiode – erstmals den Beirat für Nachhaltige Entwicklung und Ressourcenschutz ein. Der Beirat sollte Politik und Verwaltung bei Fragen hinsichtlich nachhaltiger Entwicklung unterstützen, Modellprojekte vorschlagen sowie „aus der Kenntnis des aktuellen Wissens- und Erfahrungsstandes Hinweise und Vorschläge für vordringliche Aufgaben von Politik und Verwaltung“[2] formulieren bzw. „auf erforderliche Handlungskorrekturen aufmerksam“[3] machen. Auf der konstituierenden Sitzung am 21. März 2007 stellte Minister Woidke in seinem Statement klar, dass der Beirat seine inhaltlichen Schwerpunkte selbst setzen und eigenständig über seine Arbeitsweise entscheiden könne. Nach seiner Ansicht sollte der Beirat dabei die folgenden inhaltlichen Arbeitsfelder bearbeiten:[4]
 

  • „Entwicklung und Umsetzung strategischer Ziele zum Klimaschutz
  • Optimierung der energiepolitischen Strategie des Energielandes Brandenburg im Hinblick auf eine nachhaltige, die Belange des Klimaschutzes einbeziehende Entwicklung
  • Forcierung und Bündelung aller Maßnahmen zur Stabilisierung des Wasserhaushaltes und des Gewässerschutzes
  • Standortgerechte Bewirtschaftung von Boden und Landschaft und Erzeugung gesunder Nahrungs- und Lebensmittel bei Förderung regionaler, geschlossener wirtschaftlicher und ökologischer Kreisläufe
  • Förderung einer ressourcenschonenden, klimaschützenden und klimaangepassten Infra- und Siedlungsstruktur
  • Sicherung der biologischen und genetischen Vielfalt der Natur als materiellem und des ästhetischen Reichtums der Landschaften als ideellem und sozialem Lebensquell
  • Mobilisierung eines öffentlichen Diskurses zur Förderung nachhaltigkeitsfähiger Denk- und Handlungsmuster, Lebens- und Konsumstile, individueller und gesellschaftlicher Verantwortung für regionale und globale Entwicklungen, d.h. die Publizierung des Nachhaltigkeitszieles als den Kulturentwurf des 21. Jahrhunderts.“ 

Der Beirat bestand aus 24 Personen, darunter unter anderem Vertreter aus (Natur)Wissenschaft, Wirtschaft, Naturschutz, Verwaltung und Landwirtschaft. Er war hälftig aus Wissenschaftlern, in der Regel Hochschullehrern, und Praktikern zusammengesetzt. Bemerkenswert war, dass die Mehrzahl der Wissenschaftler diesen Ansatz wegen der Verbindung von Wissenschaft und Praxis ausdrücklich begrüßte. Im Gegensatz zu anderen Beiräten, in die vor allem Interessenvertreter bestimmter gesellschaftlicher Gruppen („Stakeholder“) berufen werden, sollten die Mitglieder des Beirats für Nachhaltige Entwicklung in Brandenburg unabhängig agieren. Während dies bei den Wissenschaftlern relativ einfach umzusetzen war, wurde dieser Grundsatz bei den Praktikern auf Wunsch der Wirtschaft insofern aufgeweicht, dass diese parallel in Verbänden und Bürgerbewegungen aktiv waren und zum Beispiel auch Vertreter des Landesbauernverbandes und der IHK berufen wurden. Im Grundsatz galt aber das Prinzip der Unabhängigkeit. Die Idee war, ein möglichst breites Spektum an Akteuren aus Wissenschaft und Praxis abzudecken, um das Thema Nachhaltigkeit aus vielen verschiedenen Perspektiven bearbeiten zu können.[5]
 
Um den Arbeitsauftrag zu erfüllen, wurden verschiedene Arbeitsgruppen gebildet, die weitgehend unabhängig voneinander Themen bearbeiteten. Es wurden Arbeitsgruppen zu „Nachhaltigkeitsstrategie“, „Wasser“, „Klimaschutz und Anpassung an die Folgen des Klimawandels“, „Biodiversität, grüne Gentechnik und Landnutzung“, „Verkehr, Infrastruktur, Demografie, Raumplanung und Tourismus“ sowie „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ ins Leben gerufen.[6] Insgesamt trafen sich die unentgeltich arbeitenden Experten in 12 Plenar- und über 30 Arbeitsgruppensitzungen.
 
Um die Arbeit des Beirats zu unterstützen, wurde eine Geschäftsstelle im Umweltministerium eingerichtet, die von einem dort ansässigen Referenten betreut wurde. Er erledigte die laufenden Geschäfte und koordinierte die Arbeit. Das Selbstverständnis des Beirats, als Berater der gesamten Landesregierung zu fungieren, wurde organisatorisch durch die Verankerung im Zuständigkeitsbereich des Umweltministeriums nicht widergespiegelt: Aus Sicht des Beirats wäre eine organisatorische Angliederung an die Staatskanzlei angemessener gewesen. Hiervon hätte man sich erhofft, der Tendenz entgegenzuwirken, dass Nachhaltigkeit von vielen Ressorts „noch zu einseitig der Verantwortung des MLUV [Ministerium für Ländliche Entwicklung, Umwelt und Verbraucherschutz, aktuell: Ministerium für Ländliche Entwicklung, Umwelt und Landwirtschaft] zugeordnet“[7] wurde. Ein erster Schritt in die Richtung einer Beiratstätigkeit für die gesamte Landesregierung erfolgte dann durch die Bennenung von hausinternen Ansprechpartnern für den Nachhaltigkeitsbeirat in den meisten Ministerien. So wurde eine Zusammenarbeit zwischen Beirat und verschiedenen Ressorts außerhalb des Umweltministeriums möglich.[8]
 
Das Konsultationspapier zur Nachhaltigkeitsstrategie
Die verschiedenen Arbeitsgruppen bzw. der Beirat veröffentlichten Positionspapiere zu ausgewählten Themen, wie z.B. grüne Gentechnik und nachhaltige Waldwirtschaft, sowie Pressemitteilungen. Sie erarbeiteten Stellungnahmen zu wasserrechtlichen Vorschriften oder der Energiestrategie 2020 und entwarfen ein Konsultationspapier, das als Basis für die Diskussionen und die Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie für das Land Brandenburg dienen sollte. Die Erarbeitung erster Empfehlungen für eine Landesnachhaltigkeitsstrategie war ein wichtiger Arbeitsschwerpunkt des Beirats. Die zuständige Arbeitsgruppe „Nachhaltigkeitsstrategie“ entwickelte in enger Zusammenarbeit mit den anderen Arbeitsgruppen einen ersten Vorschlag, welche Inhalte in einer landesweiten Nachhaltigkeitsstrategie berücksichtigt werden sollten und welche Struktur eine solche haben könnte.[9] Nachhaltigkeit war im Verständnis des Beirats ein Querschnittsthema, das in alle Politikbereiche integriert werden sollte. Die Auswahl der Themenschwerpunkte folgte also einem breiten Verständnis von Nachhaltigkeit – basierend auf den drei Aspekten „Ökologie“, „Ökonomie“ und „Soziales“. In den ersten Vorschlag[10] aufgenommen wurden die Handlungsfelder:

  • „Energie und Klimawandel“
  • „Demographischer Wandel: Perspektiven für Stadt und Land“
  • „Wandel der Wirtschaftsstruktur und der Arbeitswelt in der Metropolenregion Berlin-Brandenburg“
  • „Wandel der Kulturlandschaft und ressortübergreifender Natur- und Umweltschutz“
  • „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“.

Generell ging es nicht darum, die Handlungsfelder in ihrer „Vollständigkeit und Komplexität abzubilden“, sondern „einen Überblick darüber zu gewinnen, an welchen Punkten in Brandenburg prioritärer Handlungsbedarf aus Sicht nachhaltiger Entwicklung besteht“[11]. Neben den Vorschlägen zu inhaltlichen Schwerpunkten gab der Beirat auch Empfehlungen zur politischen Verankerung des Themas Nachhaltigkeit, so z.B.[12]

  • die Federführung für die Koordination des Nachhaltigkeitsprozesses bei der Staatskanzlei
  • die Vorbildfunktion der Landesregierung (beispielsweise durch eine verstärkte, nachhaltige Beschaffung)
  • ein kontinuierliches Monitoring, um Fortschritte und Defizite zu erkennen und darauf zu reagieren
  • die Erstellung eines Indikatorenkatalogs, um Fortschritte und Entwicklung zu erkennen
  • die Verbesserung der Jugendbeteiligung
  • die systematische Bewertung von Vorhaben hinsichtlich Nachhaltigkeit (z.B. durch eine „Nachhaltigkeitsprüfung“)

Bürgerbeteiligung
Der Beirat legte von Beginn an Wert auf eine aktive Einbeziehung der Zivilgesellschaft, zu der nach dem Verständnis des Beirates, Bürger, lokale Aktionsgruppen, Bildungsakteure, Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftsverbände, Unternehmer, entwicklungspolitische Vereine, Kirchen etc. gehören. Die vom Beirat erarbeiteten Vorschläge zur Nachhaltigkeitstrategie wurden auf einer eigenen Beiratskonferenz „Chancen nachhaltiger Entwicklung – Brandenburg auf dem Wege zur Modellregion“ am 29. und 30. Juni 2009 in Potsdam mit 280 interessierten Brandenburgern diskutiert. Die Anmerkungen aus dieser Konferenz wurden dokumentiert und sind in den weiteren Prozess eingeflossen.
 
Beiträge zum öffentlichen Diskurs
Die ehrenamtlich und unentgeltlich arbeitenden Experten um den Vorsitzenden Professor Stock nahmen ihren Arbeitsauftrag ernst und haben sich vor diesem Hintergrund immer wieder in politische Debatten eingebracht (siehe hierzu Anlage 1 „Ökologie muss Chefsache werden“ im Dossier). So verfassten sie beispielsweise kritische Stellungnahmen zu Vorhaben der Landesregierung. Die AG „Wasser“ erarbeitete im Jahr 2007 eine Stellungnahme zum Gesetz zur Änderung wasserrechtlicher Vorschriften. Darin merkte der Beirat an, dass er nicht rechtzeitig in die Ausarbeitung dieses Gesetzes einbezogen worden sei.[13] Er empfahl dem Brandenburger Landtag aufgrund mangelhafter Ausarbeitung „den Gesetzesentwurf an die Landesregierung zurückzugeben, damit ein Gesetz erarbeitet werden kann, das zehn Jahre nach der ‚Oderflut‘ und fünf Jahre nach der ‚Elbeflut‘ eine neue Qualität aufweist und den Erfordernissen der neuen Rahmenbedingungen (z.B. Anpassung an die Klimawandelfolgen, der demografische Wandel und der nachteilige Einfluss auf die leitungsgebundene Infrastruktur, eine nachhaltige Entwicklung) gerecht wird“[14]. Zum Ende seiner Wirkungsperiode hin, zwei Wochen vor der Landtagswahl am 27. September 2009, übergab der Beirat seinen Endbericht, der als Grundlage für die weitere Entwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie dienen sollte, an Minister Woidke. Diese Gelegenheit nutzte der Beirat, um öffentlich auf notwendige „Handlungskorrekturen“ im Artenschutz, bei der Regulierung von Gentechnik sowie bei der Ausgestaltung der Wasser- und Energiepolitik hinzuweisen.[15]
 
Institutionalisierung des Beirats
Im Juli 2009 scheiterte ein Antrag der LINKEN, die Existenz des Beirats für Nachhaltige Entwicklung über das nahende Ende der Legislaturperiode hinaus zu sichern (siehe hierzu Anlage 2 „Auszug aus dem Plenarprotokoll“ im Dossier). Damit endete die Berufungsperiode mit der konstituierenden Sitzung des neuen Landtags am 21. Oktober 2009. Am 6. November 2009 wurde die langjährige Landtagsabgeordnete der LINKEN Anita Tack zur neuen Umweltministerin des Landes Brandenburg ernannt. Sie setzte sich von Anfang an für das Thema Nachhaltigkeit ein und wünschte sich für diese Arbeit erneut die Unterstützung eines Beirats für Nachhaltige Entwicklung. In den Koalitionsverhandlungen der neuen Regierungsparteien SPD und LINKE wurden für die 5. Legislaturperiode Regelungen zur Berufung von Beiräten diskutiert und schriftlich festgehalten. So sollten Beiräte grundsätzlich nur noch zehn Mitglieder umfassen und lediglich dem Ministerium zuarbeiten, welches sie einberufen hat. Außerdem galt „um eine Verknüpfung von Ressort- und Beiratsinteressen zu vermeiden“, dass „Ressortvertreter nicht Mitglieder von Beiräten sein oder ihnen inhaltlich unmittelbar zuarbeiten“[16] durften. Zwar ging es in den Koalitionsverhandlungen um „Beiräte“ im Allgemeinen, allerdings lässt sich vermuten, dass sich die Diskussion auch explizit auf die Erfahrungen mit dem Beirat für Nachhaltige Entwicklung bezogen und dass dieses Gremium bei einigen Politikern mit seinen kritischen Äußerungen auf wenig Gegenliebe gestoßen war. Missfallen hatte auch hervorgerufen, dass nach Meinung der Regierung nicht immer die „richtigen“ Themen behandelt oder diese in der falschen Weise behandelt wurden (z. B. Energiepolitik, Umgang mit Natur- und Wasserressourcen). Ministerin Tack bewies Kommunikationsgeschick und Durchsetzungsvermögen. Als ehemalige langjährige Landtagsabgeordnete der LINKEN gelang es ihr, die Diskussion über einen Beschluss des Brandenburger Landtags zur Nachhaltigen Entwicklung voranzutreiben und dafür eine Mehrheit zu schaffen. In diesem Beschluss wird die Landesregierung aufgefordert, eine Landesnachhaltigkeitsstrategie mit Unterstützung eines „wissenschaftlichen Beirats“ zu erarbeiten.[17] Der Beirat für Nachhaltige Entwicklung wurde am 15. April 2010 durch die Ministerin Tack einberufen und Professor Stock später als Vorsitzender wiedergewählt. Allerdings wurde die Zusammensetzung aufgrund der Vorgaben im Koalitionsvertrag verändert (siehe hierzu Anlage 3 „Mitglieder des Beirats für Nachhaltige Entwicklung“ im Dossier). Da es sich nun um einen „wissenschaftlichen Beirat“ handelte, wurden nur noch Wissenschaftler berufen. Darüber hinaus wurde die Mitgliederzahl von 24 auf 13 deutlich reduziert. Die Geschäftsstelle wurde vom Umweltministerium an das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, wo der Beiratsvorsitzende tätig war, umgesiedelt.
 
Das waren die Erfahrungen und Hintergründe, über die Professor Stock nun kurz nach seiner Wahl nachdachte und sich die eingangs geschilderten Fragen stellte. Er war gespannt auf die Arbeit des neuen Beirats; nach dem Agenda-Setting in der vergangenen Legislaturperiode und gestützt auf den Willen des Parlamentes würde es nun darum gehen, Inhalte zu formulieren und eine Nachhaltigkeitsstrategie für das Land Brandenburg zu erarbeiten und zu verabschieden. Er wusste, dass es noch ein langer Weg intensiver Arbeit mit einigen Herausforderungen werden würde. Vor allem zu welcher Nachhaltigkeitsstrategie der Weg führen würde, war nach seiner Einschätzung noch ein offener und steiniger Prozess.