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Lehr-Fallstudien: Brandenburg Fall B

Die neue Landesregierung berief 2010 auf Basis eines Landtagsbeschlusses einen neuen Beirat für Nachhaltige Entwicklung ein, der leicht abweichend von den Vorgaben aus den Koalitionsvereinbarungen 13 Experten umfasste und rein wissenschaftlich besetzt war. Ein Teil der Mitglieder war bereits im ersten Beirat aktiv gewesen und brachte somit Erfahrung aus der vorhergehenden Amtszeit mit. Angesiedelt war der Beirat wieder im Zuständigkeitsbereich des Umweltministeriums, das nun von Anita Tack (DIE LINKE) geführt wurde.

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Fallstudie

Endlich! Nach insgesamt sieben Jahren kontinuierlicher Arbeit wurde sie nun im Sommer 2014 vom Brandenburger Kabinett beschlossen: Die Nachhaltigkeitsstrategie[1]. Der Vorsitzende des Beirats für Nachhaltige Entwicklung, Professor Stock vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, war erleichtert, als er das 111-seitige Dokument in den Händen hielt (siehe hierzu Anlage 1 „Inhaltsverzeichnis der Nachhaltigkeitsstrategie für das Land Brandenburg“ im Dossier). Seit 2010 hatte der Beirat für Nachhaltige Entwicklung gemeinsam mit der Interministeriellen Arbeitsgruppe (IMAG) unter breiter Beteiligung der Öffentlichkeit gezielt an dem Dokument gearbeitet. Rückblickend war es eine sehr ereignisreiche Zeit gewesen, in der Netzwerke aufgebaut, Austausch zwischen Verwaltung, Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft gefördert und ressortübergreifend Verständnis für Nachhaltigkeit geschaffen worden ist. Professor Stock hielt einen Moment inne und blickte zurück auf einen langen, arbeitsintensiven Prozess, dessen Ergebnisse nun endlich vorlagen. Er fragte sich, ob mehr für eine verbindliche und ambitionierte Nachhaltigkeitspolitik des Landes hätte erreicht werden können? Wie hätte wohl die Nachhaltigkeitsstrategie ohne die Arbeit des Beirats ausgesehen? Welchen Mehrwert hat der Beirat im Prozess geliefert? In Gedanken ließ er den Prozess Revue passieren.
 
Der Beirat für Nachhaltige Entwicklung

Der Beirat für Nachhaltige Entwicklung wurde erstmals im Jahr 2007 bis zum Ende der 4. Legislaturperiode im Jahr 2009 vom damaligen Umweltminister Dr. Dietmar Woidke, SPD, einberufen (siehe hierzu Anlage 2 „Übersicht zur Geschichte der Nachhaltigkeit in Brandenburg“ im Dossier). Dieser erste Beirat umfasste 24 Mitglieder aus den Bereichen Wirtschaft, Naturschutz, Wissenschaft und Verwaltung (siehe hierzu Anlage 3 „Mitglieder des 1. Beirats für Nachhaltige Entwicklung (2007 bis 2009)“ im Dossier). Der Beirat sollte Politik und Verwaltung in Nachhaltigkeitsfragen unterstützen, Modellprojekte vorschlagen sowie „aus sich heraus, das heißt, aus der Kenntnis des aktuellen Wissens- und Erfahrungsstandes selbstständig Hinweise und Vorschläge für vordringliche Aufgaben von Politik und Verwaltung“ formulieren bzw. „auf erforderliche Handlungskorrekturen aufmerksam“ machen.[2] Mit seinem Abschlussbericht „Brandenburg auf dem Weg zur Modellregion für Nachhaltige Entwicklung“ legte er im Jahr 2009 erste Empfehlungen[3] für Inhalt und Struktur einer Landesnachhaltigkeitsstrategie vor. Nach der Wahl im September 2009 wurde die große Koalition zwischen SPD und CDU abgelöst. Die neue Regierung aus SPD und LINKEN, zunächst wieder geführt von Matthias Platzeck, SPD, schrieb in ihren Koalitionsvereinbarungen fest, dass Beiräte generell nur noch 10 Mitglieder umfassen dürften.[4]
Die neue Landesregierung berief 2010 auf Basis eines Landtagsbeschlusses (siehe hierzu Anlage 4 „Beschluss des Landtags zur Nachhaltigen Entwicklung“ im Dossier) einen neuen Beirat für Nachhaltige Entwicklung ein, der leicht abweichend von den Vorgaben aus den Koalitionsvereinbarungen 13 Experten umfasste und rein wissenschaftlich besetzt war (siehe hierzu Anlage 5 „Mitglieder des 2. Beirats für Nachhaltige Entwicklung (2010 bis 2014)“ im Dossier). Ein Teil der Mitglieder war bereits im ersten Beirat aktiv gewesen und brachte somit Erfahrung aus der vorhergehenden Amtszeit mit. Angesiedelt war der Beirat wieder im Zuständigkeitsbereich des Umweltministeriums, das nun von Anita Tack (DIE LINKE) geführt wurde. „Um eine Verknüpfung von Ressort- und Beiratsinteressen zu vermeiden“[5], wie es ebenfalls in den Koalitionsvereinbarungen heißt, wurde die Geschäftsstelle des Beirats nun aus dem Umweltministerium ins Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, an dem der Beiratsvorsitzende tätig war, umgesiedelt. Die Arbeit der Geschäftsstelle, in der zwei Mitarbeiter tätig waren, wurde durch das Ministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz (MUGV) finanziert.
 
Zwar unterschied sich der neue Beirat in Größe, Zusammensetzung und Arbeitsauftrag vom alten Beirat, doch knüpfte er an die Arbeit der vorhergehenden Wirkungsperiode an und griff die Empfehlungen des Vorgänger-Gremiums für eine Nachhaltigkeitsstrategie auf. Neben den inhaltlichen Schwerpunkten

  • Energie und Klimawandel,
  • demografischer Wandel,
  • Wandel der Wirtschaftsstruktur,
  • Natur- und Umweltschutz sowie
  • Bildung

lag dem Beirat vor allem daran, eine Nachhaltigkeitsstrategie unter möglichst breiter Beteiligung der Öffentlichkeit zu erarbeiten. Der Beirat setzte sich dafür ein, Nachhaltigkeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen. Es sollte nicht nur um die Ausarbeitung von verschiedenen Maßnahmen durch ein Expertengremium gehen, sondern auch um die Beteiligung aller Brandenburger Bürger am Gestaltungsprozess. Der aktive Einbezug der Zivilgesellschaft entspricht dem Verständnis von nachhaltiger Entwicklung als gesellschaftlichen Lern-, Such- und Gestaltungsprozess. Außerdem sollte durch die aktive Beteiligung die Umsetzung erleichtert werden. Tatsächlich ermöglichte der Beirat den Weg für ein im deutschen Vergleich relativ umfassendes Bürgerbeteiligungsverfahren im Rahmen von Nachhaltigkeitsstrategien[6]. Der Einbezug der Brandenburger begann recht frühzeitig, nachdem die Landesregierung im Kabinett auf der Grundlage von Empfehlungen des Beirats Eckpunkte für die Landesnachhaltigkeitsstrategie beschlossen hatte. Ausführlich diskutierten die Bürger dann den Entwurf der Landesnachhaltigkeitsstrategie, der zwischen Beirat und Interministerieller Arbeitsgruppe sowie innerhalb der verschiedenen Ministerien abgestimmt worden war.
 
Die Interministerielle Arbeitsgruppe

Wenn man den Beirat für Nachhaltige Entwicklung als wissenschaftlich unabhängigen Vordenker bezeichnet, war die Interministerielle Arbeitsgruppe das „zentrale Steuerungsinstrument zur Aufstellung der Nachhaltigkeitsstrategie“[7]. Sie diente dazu, die inhaltlichen Vorschläge des Beirats auf 
Praxistauglichkeit zu prüfen, zwischen den Ressorts zu diskutieren und abzustimmen. Außerdem koordinierte sie den Dialogprozess mit der Zivilgesellschaft.[8] Die IMAG wurde zunächst durch den Staatssekretär des Umweltministeriums Dr. Heinrich-Daniel Rühmkorf geleitet, der im November 2012 durch die neue Staatssekretärin Almuth Hartwig-Tiedt abgelöst wurde. Die IMAG bestand aus Vertretern aller neun Ministerien sowie der Staatskanzlei. Diese waren vor allem Referatsleiter und Referenten.[9] Sie standen den Treffen der IMAG und der damit verbundenen zusätzlichen Arbeitsbelastung zunächst skeptisch gegenüber. In den ersten Sitzungen konnte die anfängliche Skepsis allerdings schnell überwunden werden und der Austausch zwischen den Ressorts wurde überwiegend als anregend und gewinnbringend empfunden. Durch das regelmäßige Zusammenkommen wurde ein verlässliches Netzwerk geschaffen, das sich ressortübergreifend mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigte. Insgesamt bestand die Gruppe aus 17 Teilnehmern.
 
Neben Vertretern der Ministerialverwaltung nahmen aus den Reihen des Beirats der Vorsitzende Professor Stock sowie ein weiteres Beiratsmitglied, Herr Dr. Statz, ehemaliger Leiter des Referats Umweltpolitische Grundsatzangelegenheiten und Nachhaltigkeitsstrategie des Bundesumweltministeriums, regelmäßig an den Sitzungen teil. Auch die beiden Mitarbeiter der Geschäftsstelle des Beirats waren bei einigen Sitzungen anwesend.
 
Damit war nicht nur der Austausch zwischen den Ressorts gewährleistet, sondern auch die direkte Verbindung zwischen IMAG und Beirat geschaffen. Die Referenten brachten zum einen Inhalte und Ansichten aus ihren Ministerien in die IMAG ein; zum anderen kommunizierten sie die aktuellen Ergebnisse an ihre Ministerien, damit diese dort wiederum in den entsprechenden Abteilungen und Referaten bearbeitet werden konnten. In der IMAG wurden so schrittweise alle vom Beirat eingebrachten Themen diskutiert und bei strittigen Themen Kompromisse gefunden. Ein umfassend diskutiertes Thema war beispielsweise die Nachhaltigkeitsprüfung. Im Landtagsbeschluss zur Nachhaltigen Entwicklung in Brandenburg vom 21. Januar 2010 wurde die Landesregierung aufgefordert, Eckpunkte für eine Nachhaltigkeitsstrategie zu formulieren und „dabei zu prüfen, ob im Bund verwandte Instrumente (wie z.B. ein Nachhaltigkeitscheck für gesetzliche Regelungen, regelmäßige Fortschrittsberichte oder ein „Green-Cabinet“) auf Landesebene eingeführt werden sollten“[10] (siehe hierzu Anlage 4 „Beschluss des Landtags zur Nachhaltigen Entwicklung, Drucksache 5/290-B“ im Dossier). Herr Dr. Statz nahm sich dieser Problematik an und verfasste Anregungen für eine Nachhaltigkeitsprüfung von Plänen und Programmen. Diese stellte er in der IMAG vor und initiierte damit die Arbeit an einem Excel-basierten Nachhaltigkeitstool. Dieses sollte dazu dienen, Vorhaben im Vorhinein auf ihren Nachhaltigkeitscharakter zu überprüfen und Entscheidungsträger zu informieren (siehe hierzu Anlage 6 „Einführung für den Expertenworkshop zur Nachhaltigkeitsprüfung am 13. Dezember 2011“ im Dossier). Es fanden verschiedene Pilotversuche in unterschiedlichen Ressorts statt.[11] Das Instrument wurde in der IMAG kontrovers diskutiert. Auch Staatssekretäre verschiedener Ressorts mit konträren Meinungen haben sich an den Debatten beteiligt. Schließlich wurde das Thema zurückgestellt, fand aber schlussendlich doch Eingang in die Nachhaltigkeitsstrategie. So sollen die Ergebnisse der Pilotversuche ausgewertet und zentrale Vorhaben, auf die eine Nachhaltigkeitsprüfung angewendet werden könnte, identifiziert werden.[12]
 
Der Dialogprozess

Die Idee des Beirats für Nachhaltige Entwicklung, in einem breiten Partizipationsverfahren möglichst viele Bürger sowie Akteure der Zivilgesellschaft in die Ausarbeitung einer Nachhaltigkeitsstrategie einzubeziehen, stieß bei der Umweltministerin Anita Tack auf offene Ohren. Auch sie wünschte sich eine umfassende Beteiligung der Öffentlichkeit. Eine Bietergemeinschaft, bestehend aus zwei Kommunikationsagenturen, wurde durch das Umweltministerium damit beauftragt, den Prozess zu organisieren. Am 23. März 2012 begann die erste Dialogphase mit einer Auftaktveranstaltung (siehe hierzu Anlage 7 „Brandenburg will nachhaltig werden“ im Dossier). Etwa 200 Bürger nahmen an der Veranstaltung teil. Mit der Anwesenheit von Herrn Dr. Volker Hauff, der in den 1980er Jahren Mitglied der Brundtland-Kommission war, gelang es den Organisatoren eine prominent besetzte Auftaktveranstaltung zu organisieren.
 
Der Auftaktveranstaltung folgten in den kommenden Monaten Bürger-Workshops zu den Themen:

  • Klima und Energiepolitik,
  • Finanzpolitik,
  • Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE),
  • Wirtschaft und Arbeit,
  • Lebensqualität in Städten und Dörfern sowie
  • Jugend.

An den Workshops nahmen Bürger genauso wie Interessenvertreter aus Umwelt, Wirtschaft, Bildung und Verwaltung teil. Die in diesen Sitzungen gesammelten Ideen, Anregungen und Meinungen wurden vom Umweltministerium gebündelt und an die IMAG weitergeleitet. Dort flossen sie in die Diskussionen ein und wurden „weiterverarbeitet“. Die IMAG erstellte einen ersten offiziellen Entwurf der Landesnachhaltigkeitsstrategie unter Federführung des Umweltministeriums, das die Vorlage erarbeitet hatte, und auf Basis der Empfehlungen des Beirats für Nachhaltige Entwicklung, der Anregungen aus dem Beteiligungsprozess und der Ergebnisse des Abstimmungsprozesses zwischen den Ministerien einbrachte.
 
Der Strategieentwurf wurde in einer zweiten Dialogphase öffentlich zur Diskussion gestellt. Hier fand auch ein erster Expertenworkshop zu den Zielen und Indikatoren der Strategie statt. So hatten Bürger die Möglichkeit, sich während einer Veranstaltung direkt zum Entwurf zu äußern oder das Dokument im Internet zu kommentieren. Die Ergebnisse aus der Onlinebeteiligung und der Veranstaltung wurden an die IMAG weitergeleitet. Diese erstellte dann die Endfassung der Landesnachhaltigkeitsstrategie, die am 29. April 2014 von der Landesregierung verabschiedet worden war und die Professor Stock nun in den Händen hielt. Es war ein umfangreicher Prozess gewesen, an dem sehr viele Menschen mitgewirkt haben, und er war froh, also Beiratsvorsitzender maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Dennoch wusste er auch, die eigentliche Arbeit - die Umsetzung der Landesnachhaltigkeitsstrategie – stand noch bevor.

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[i]    Prof. Dr. Isabella Proeller ist Inhaberin des Lehrstuhls Public & Nonprofit Management an der Universität Potsdam. Zu ihren Forschungsgebieten gehören strategische Steuerung im öffentlichen Sektor, Steuerungs- und Führungsmechanismen der Verwaltung und Performance Management. Valeria Haasis ist Mitarbeiterin am Lehrstuhl Public & Nonprofit Management an der Universität Potsdam. Sie beschäftigt sich mit Nachhaltigkeitsmanagement, strategischer Steuerung und Public Value.