Familie am Esstisch
© Veit Mette

Lehr-Fallstudien: Elterngeld

Mit der Einführung des Elterngeldes vollzog die deutsche Familienpolitik unter Ministerin Ursula von der Leyen (CDU) einen weitreichenden Paradigmenwechsel. Vorbereitet wurde dieses Projekt jedoch unter parteipolitisch völlig anderen Vorzeichen. Nicht von der Leyen sondern ihre SPD-Amtsvorgängerin Renate Schmidt hatte das Projekt angestoßen. Auf Sympathie stieß sie damit in der SPD, bei Frauenpolitikerinnen der Union und in der Wirtschaft. Ablehnung kam dagegen aus großen Teilen der Union, aus der katholischen Kirche und von Haushaltspolitikern. Als von der Leyen nach der Bundestagswahl 2005 das Amt der Bundesfamilienministerin übernahm, war sie sich der überwiegenden Ablehnung gegenüber dem Elterngeld in ihrer Partei bewusst. Wie es von der Leyen und Schmidt trotzdem erfolgreich gelang das Elterngeld einzuführen, zeichnet diese Falldarstellung mit Hilfe der Systematik des ReformKompass nach.

  • PDF

1) Stabwechsel der Ministerinnen mitten im Reformprozess

Von der Leyen wird Bundesfamilienministerin

Es ist Nachmittag, 22. November 2005, ein feierlicher und gleichzeitig nervöser Moment im Deutschen Bundestag: „Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.“[1] Ursula von der Leyen wird als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vereidigt. Was denkt man in einem solchen Moment? Vielleicht an die historische Dimension: Was ist mein Thema, mein großes Projekt als Ministerin? Als zentrales Projekt will sie die Elterngeld-Pläne umsetzen. Ausgerechnet ein SPD-Projekt – Pläne, die in ihrer eigenen Partei keine Mehrheit haben. Wer unterstützt sie? Wer möchte sie ausbremsen? Welches persönliche politische Risiko geht sie ein? Wo müssen ihre Reformpläne ggf. abgespeckt werden? Welches Timing soll sie wählen? Und wie kann sie die notwendigen Mehrheiten, vor allem in der eigenen Partei, organisieren?

Ein Blick zurück: Vor gut zwei Monaten war noch Bundestagswahlkampf. Union gegen SPD, Merkel gegen Schröder. Die SPD warb für ein Elterngeld, CDU und CSU lehnten es ab und warben für andere familienpolitische Maßnahmen. Jetzt, im November, kennen noch alle die parteipolitischen Positionen. Jedoch hat sich in den letzten Wochen enorm viel verändert: Am 18. September 2005 war die Bundestagswahl: Angela Merkels Union lag vor der SPD, jedoch hatten die Wunschkoalitionen beider Volksparteien keine Mehrheit. Nachdem das Wahlkampfgetöse verhallt und die Machtverhältnisse realisiert waren, lief alles auf eine große Koalition heraus. Nach diversen Sondierungen begannen am 17. Oktober 2005 die Koalitionsverhandlungen. Am gleichen Tag schlug Angela Merkel die niedersächsische Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) öffentlich als Familienministerin vor.

Weichenstellungen im Koalitionsausschuss

In den Koalitionsverhandlungen waren von der Leyen und die Familienministerin der Vorgängerregierung, Renate Schmidt (SPD), gemeinsam als Verhandlungsführer für die Arbeitsgruppe Familie verantwortlich. Von Vorgängerin Schmidt lag ein ausgearbeitetes Konzept für das Elterngeld vor. Das Agenda Setting war in der vergangenen Legislaturperiode erfolgreich betrieben worden, jedoch unter anderen parteipolitischen Vorzeichen. Für das Elterngeld gab es Sympathien in der SPD, bei Frauenpolitikerinnen der Union und in der Wirtschaft. Ablehnung kam dagegen aus großen Teilen der Union, aus der katholischen Kirche und von Haushaltspolitikern. Schmidt, im Wissen als Familienministerin auszuscheiden, setzte sich nachdrücklich für die Realisierung der Elterngeld-Pläne ein. Von der Leyen stimmte dem zu; sie war sich dabei der überwiegenden Ablehnung in ihrer Partei bewusst und ihr war klar, dass sie damit ein politisches Risiko einging. Für beide Politikerinnen ging es nun darum, das Elterngeld in der großen Koalition zu verankern.

Am 2. November 2005 einigten sich Union und SPD darauf, ein einkommensabhängiges Elterngeld einzuführen.[2]  Im Terminus des ReformKompass-Modells war damit Phase 2 der „Formulierung und Entscheidung“ eingeläutet. Als Rahmen zurrte der Koalitionsausschuss fest, das Elterngeld maximal ein Jahr lang auszuzahlen. Es sollte zwei Drittel des Nettoeinkommens bei einer Obergrenze von 1.800 Euro betragen. Für von der Leyen ging es nun um die strategische Steuerung des Reformprozesses in der 16. Legislaturperiode. Dabei gab es mehrere kritische Punkte bei der Umsetzung der im Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 vereinbarten Einführung des Elterngeldes (Auszug siehe Dossier am Ende des Artikels): Denn ob sich dieses (a) politisch tatsächlich umsetzen ließ und (b) in welcher Ausgestaltung bezüglich der Höhe der Ersatzleistung, des Sockelbetrages, der Länge und der geschlechtsspezifischen Anreize war zu diesem Zeitpunkt völlig offen.[3]

Elterngeld als Paradigmenwechsel

Die Einführung des Elterngeldes ist nicht nur eine weitere Sozialleistung, die bei den Empfängern beliebt ist und den Finanzminister mehrere Milliarden Euro kostet. Vielmehr handelt es sich um einen enorm weitreichenden Paradigmenwechsel in der deutschen Familienpolitik. Dieser beruht auf zwei Aspekten[4]:

(1) Die Einführung des Elterngeldes ist eine Lebenslaufpolitik; entsprechend ist die jeweilige Höhe am vor der Geburt des Kindes verdienten Einkommen, also den Opportunitätskosten von Kindern, orientiert. Besser verdienende Eltern bekommen dadurch deutlich mehr als Einkommensschwache. Damit folgt das Elterngeld nicht den bisherigen familienpolitischen Prinzipien wie Bedürftigkeit, Lastenausgleich oder Universalität.

(2) Das Elterngeld setzt explizite Anreize für Väter, eine berufliche Auszeit zugunsten der Familie zu nehmen. Derartige Auszeiten wurden zuvor sehr selten genutzt[5] und die Reform versucht, die paarspezifische Aufteilung von Beruf und Fürsorgearbeit zu beeinflussen. Gemeinsam mit dem Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige, der zwischen 2004 und 2013 intensiviert wurde, normiert das Elterngeld das Zweiverdiener-Modell und einen drastisch verkürzten Berufsausstieg von Müttern. Beide Reformen stehen nicht nur im Widerspruch zur bisherigen Familienpolitik, sondern auch zum wohlfahrtsstaatlich und steuerpolitisch normierten traditionellen Familienverständnis der deutschen Politik.[6]

Weite Teile von CDU und CSU orientieren sich an diesem traditionellen Familienverständnis. Die Vorstellung, durch Politikmaßnahmen Anreize zu geben, die den familienbedingten Berufsausstieg von Müttern auf ein Jahr verkürzen, findet deshalb bei vielen in der Union keine Zustimmung. Zumal die Idee zum Elterngeld ursprünglich aus der SPD stammte, die Union aber die Wahl gewonnen hat. Auch wird es kritisch gesehen, dass diejenigen Paare weniger Elterngeld bekommen sollen, bei denen der Vater nicht ebenfalls die Arbeit unterbricht. Dazu soll das Projekt rund drei Milliarden Euro kosten (Stand 2005), was angesichts knapper Haushalte schwer zu rechtfertigen ist.

November 2005: Von der Leyen ist neu im Amt, erstmals Bundesministerin. Sie kann zwar auf ein erfolgreiches Agenda Setting und die im Koalitionsvertrag festgehaltene Absicht zurückgreifen. Aber sie steht vor der Herausforderung, eine Reform gegen große Teile ihrer eigenen Partei umzusetzen. Wie kann sie ihre eigene Partei, die CDU, und vor allem die CSU davon überzeugen, das ursprünglich rot-grüne Projekt zu unterstützen? Das Vorhaben birgt Gefahren: Sie könnte sich in der eigenen Partei isolieren. Und wenn sie die Elterngeld-Reform als zentrales Vorhaben ihres Ressorts nicht umsetzten kann, könnte das auch ihre Ministerkarriere gefährden.

2) Agenda Setting: Die Verzahnung von wissenschaftlicher Expertise, Bündnispartnern und Kommunikationsstrategie

Im Folgenden wird der Reformprozess zur Einführung des Elterngeldes mithilfe des ReformKompass analysiert. Damit einher geht eine Beschreibung des Einsetzens der Strategiegruppe, die Vorbereitung des Agenda Settings und die Agenda Setting-Phase, die vor der Amtszeit von der Leyens liegen. Zur Phase der Politikformulierung und Entscheidung sind in Kapitel 3 Hintergrundinformationen aufbereitet, die zentrale Optionen für die strategische Steuerung in dieser Phase erkennen lassen. Ein Einblick in die Umsetzungsphase (Kapitel 4) und die fortlaufende Erfolgskontrolle (Kapitel 5) runden die Darstellung ab. Im anschließenden Dossier ist ein Überblick über wichtige Termine, Ereignisse und Entscheidungen für sämtliche Phasen von 2003 bis 2012 zu finden.

Einsetzen der Strategiegruppe und Vorbereitung des Agenda Settings

Die erste Phase im Reformprozess zum Elterngeld begann in der 15. Legislaturperiode. Zentrale Akteurin der Kernexekutive war Bundesfamilienministerin Renate Schmidt. Sie holte systematisch externe Expertise ein: durch die Vergabe zweier Gutachten an den Ökonomen Bert Rürup und den Soziologen Hans Bertram sowie durch die Berufung der Sachverständigenkommission des Siebten Familienberichts. Dadurch wurde nicht nur das Fachwissen rekrutiert, beide Wissenschaftler fungierten auch als Akteure, die das Elterngeld in der Öffentlichkeit forderten. Gutachten und Familienbericht betrafen beide Dimensionen: Kompetenz und Kommunikation. Sie erarbeiteten nicht nur die wissenschaftlichen Grundlagen sondern beeinflussten auch die Politik und die konkrete Ausgestaltung des Elterngeldes.

Welche Kernbotschaften wurden kommuniziert? Eine Kernbotschaft war, dass das Elterngeld im Kontext von Kinderbetreuung und Ganztagsschulen gesehen werden muss. Eine weitere bestand darin, dass familienpolitische Maßnahmen – wie Kinderbetreuungsausbau und Elterngeld – ökonomisch hochrelevante Effekte haben, da sie die Frauenerwerbsquote und die Geburtenrate steigern können. Durch diese Botschaft war Unterstützung für Familienpolitik aus Bereichen rekrutierbar, die über die klassischen familienpolitischen Akteure hinausgehen: Unternehmensverbände, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker anderer Ressorts. Dieses Politikfeld, ehemals von Gerhard Schröder als Gedöns verspottet, wurde so elementar aufgewertet.[7]

Renate Schmidts Tabubruch

Ein Tabubruch trug dazu bei, das nötige Problembewusstsein für eine Reform zu schaffen: Schmidt konstatierte, dass die Geburtenrate in Deutschland zu niedrig ist und politisch etwas dagegen getan werden sollte.

„Wir haben in Deutschland in der Zwischenzeit die viertschlechteste Geburtenrate der Staaten in der Europäischen Union. (…) Deutschland braucht mehr Kinder, wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen. Liebe Genossen, liebe Genossinnen, das ist keine platte Bevölkerungspolitik unseligen Angedenkens, sondern Politik, die ermöglicht, dass Lebenswünsche und Lebensträume von jungen Menschen endlich wirklich werden.“ (Renate Schmidt, 19.11.2003)[8]

Bei der Vorstellung des Rürup-Gutachtens für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), aber auch in Interviews und auf dem SPD-Parteitag bekannte sich Schmidt offen zum Ziel einer Steigerung der Geburtenrate. Dieser Tabubruch wurde in den Medien und in der Partei überwiegend akzeptiert. Das hat drei Gründe: (1) die hohe Authentizität und Glaubwürdigkeit Schmidts, (2) die gestiegene mediale Wahrnehmung der Folgen des Geburtenrückgangs für die Sozialversicherungen und (3) Schmidts gleichzeitig vorgetragenes Plädoyer für eine an Gleichstellung und Lebensrealitäten orientierte Familienpolitik:

„Was aber bieten wir der am besten ausgebildeten Frauengeneration derzeit noch in Westdeutschland für ein Lebensmodell? Sich gut ausbilden lassen, dann ein paar Jahre erwerbstätig sein, dann tickt die so genannte biologische Uhr, dann muss die Entscheidung getroffen werden: Kind ja oder nein? Wenn die Entscheidung Ja heißt, dann heißt es für die betroffenen Frauen erst einmal: drei Jahre raus aus dem Beruf, weil wir nicht die notwendige Kinderbetreuung haben. (…) in vielen Kommunen in Westdeutschland heißt Ganztagskindergarten: das Kind früh bringen, mittags um 12 oder 12.30 Uhr das Kind abholen, damit das arme Kleine zu Hause die aufgemachte Dose Ravioli oder die Fischstäbchen aus der Tiefkühltruhe bekommt, um 14 Uhr das Kind wieder bringen und um 16.30 Uhr abholen. So lässt sich nicht einmal eine vernünftige Teilzeitbeschäftigung ausüben. Das haben die Frauen bis oben hin gestrichen satt. Das wollen sie nicht mehr.“ (Renate Schmidt, 19.11.2003)[9]

Die „strategische Ökonomisierung“[10] der Familienpolitik, die von der Leyen zugeschrieben wird, wurde unter Schmidt vorbereitet. Sowohl bei Schmidt als auch bei von der Leyen handelte es sich jedoch weniger um eine Ökonomisierung, sondern eher um eine Erweiterung um demografische und arbeitsmarktpolitische Ziele und entsprechende Unterstützerpotenziale. Die „komplementäre Zielstruktur“[11] der Familienpolitik wurde entdeckt und strategisch genutzt. Die Kernexekutive hatte in dieser Phase mit Schmidt eine Persönlichkeit, die sowohl die politische Macht als auch die Bereitschaft und Fähigkeit hatte, politische Führung zu übernehmen.[12]

Bündnisse und Allianzen

Zwei Kooperationen und Vernetzungen sind in dieser Phase besonders zu erwähnen: Im Juli 2003 initiierten das BMFSFJ und die Bertelsmann Stiftung die „Allianz für die Familie“, eine Plattform für Akteure aus Wirtschaft und Gewerkschaften, die sich für eine familienfreundlichere Arbeitswelt engagieren. Im Januar 2004 startete die Bundesinitiative „Lokale Bündnisse für Familie“, die auf kommunaler Ebene Netzwerke aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft verbindet. Innerhalb weniger Jahre wurden an 670 Standorten Bündnisse etabliert, in deren Reichweite etwa 56 Millionen Menschen leben.[13] In beiden Projekten geht es im Kern um die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Damit gelang dem Familienministerium eine breite Vernetzung zu Kommunen und Betrieben. Um die Vereinbarkeit vor Ort zu verbessern, sind diese Bündnisse sinnvoll, gleichzeitig sind Kommunen und Betriebe dadurch als Bündnispartner für die Modernisierung der Familienpolitik zu gewinnen.

Vom Elterngeld war in dieser Phase in der Öffentlichkeit noch keine Rede. Im Mittelpunkt der Familienpolitik stand 2004 die Kinderbetreuung. Das Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG), das 230.000 neue Betreuungsplätze bis 2010 vorsah, wurde erarbeitet. Als das TAG auf dem Weg war, thematisierte Renate Schmidt das Elterngeld auf der Klausurtagung des Kabinetts in Neuhardenberg am 9. Juli 2004. Bundeskanzler Gerhard Schröder bat sie daraufhin, „Details auszuarbeiten“[14].

Der Begriff „Elterngeld“ taucht medial erstmals auf: Beginn des Agenda Settings in den Massenmedien

Das Agenda Setting in der Öffentlichkeit begann am 5. September 2004. Auf der Kabinettsklausur in Bonn wurde beschlossen, ein einkommensabhängiges Elterngeld einzuführen. Der Begriff Elterngeld war damit erstmals erfolgreich in der medialen Arena platziert. Inhaltsanalysen von Archiven überregionaler Zeitungen wie FAZ, SZ und WELT belegen, dass das Wort „Elterngeld“ erstmals zu diesem Zeitpunkt in den Medien auftauchte und dort seitdem bis heute regelmäßig thematisiert wird.[15] Sozialwissenschaftlern, Ökonomen und Demografen war das Elterngeld aufgrund der skandinavischen Erfahrungen schon lange zuvor ein Begriff. Spätestens das Rürup-Gutachten brachte es in den fachpolitischen Diskurs. Bemerkenswert ist, dass der konkrete Vorschlag von Renate Schmidt erst einer breiten Öffentlichkeit kommuniziert wurde, nachdem Kanzler Schröder sich dahinter gestellt hatte.

„(Kanzler Schröder) verwies darauf, dass v.a. Akademikerinnen immer seltener Kinder bekommen wollten. Eine solche Entwicklung habe gesellschaftliche Folgen, warnte er.“ (Bundeskanzler Gerhard Schröder, 5.9.2004, indirektes Zitat)[16]

„Es geht um die Akademiker, die noch weniger Kinder bekommen als andere, was die ohnehin gestörte Tradierung kulturellen Wissens gefährdet. Damit sich das ändert, will Familienministerin Renate Schmidt ein Elterngeld einführen, das anders als das Erziehungsgeld nicht aus einer für alle gleichen Pauschale besteht, sondern aus einem Betrag, der je nach Einkommen variiert – so dass Akademikerinnen, die meist besser verdienen, pro Kind mehr bekämen als Verkäuferinnen. So will man die Gebildeten ermutigen, mehr Kinder zu bekommen.“ (Die Welt, 6.9.2004)[17]

Die Zitate zeigen, dass bei der erstmaligen Verkündung der Elterngeld-Pläne die niedrige Geburtenrate von Akademikerinnen eine zentrale Begründung war und von den Medien verstärkt aufgegriffen wurde. Tatsächlich liegt die Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen mit 30,0 Prozent und bei westdeutschen Akademikerinnen mit 32,3 Prozent deutlich über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung von 20,8 Prozent (bezogen auf die Geburtskohorte 1964–68).[18] Die Datenlage war zu diesem Zeitpunkt noch nicht so klar, vielfach kursierten in den Medien völlig überhöhte Zahlen von 40 Prozent Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen.

Allerdings kommunizierten vor allem SPD-Politiker in der Folge die sozial- und gleichstellungspolitischen Ziele des Elterngeldes verstärkt. Viele SPD-Politiker begründeten das Elterngeld, ohne das Ziel, die Geburtenrate zu steigern, zu bemühen – wie auch das SPD-Wahlprogramm zehn Monate nach Beginn der Agenda Setting-Phase zeigt:

„Wir stellen dadurch sicher, dass Familien ihren Lebensstandard, auch wenn sie ihre Berufstätigkeit unterbrechen, halten können. Die Gleichstellung der Frau wird so gefördert. Väter haben dadurch bessere Möglichkeiten Elternzeit in Anspruch zu nehmen.“ (SPD-Wahlprogramm 4.7.2005)[19]

Kritik an den Elterngeld-Plänen aus CDU und CSU

In der CDU/CSU wurden die Elterngeld-Pläne vehement kritisiert. Insbesondere die Verkürzung der Leistung im Vergleich zum Erziehungsgeld – von drei Jahren auf ein Jahr – lehnten CDU/CSU-Politikerinnen ab. Aber auch das sozialpolitische Argument einer Verteilungsungerechtigkeit wurde vorgebracht.

„Das ist Politik nach dem Motto: Wer viel hat, dem wird gegeben.“ (Bayerische Sozialministerin Christa Stewens, CSU, 12.9.2005)[20]

„Eltern sind nach einem Jahr gezwungen, wieder zu arbeiten, der Staat darf aber niemandem Vorschriften machen.“ (CDU-Fraktionsvize Maria Böhmer, 2.5.2005)[21]

Böhmer verwies auf die Erfahrung mit dem Erziehungsgeld, das die meisten Eltern in der Kleinkindphase beziehen und nur elf Prozent lediglich im ersten Jahr. Zudem bieten unionsregierte Bundesländer wie Bayern und Thüringen im dritten Lebensjahr des Kindes ein Landeserziehungsgeld an. Im Unterschied zur deutlichen Mehrheit in CDU und CSU spracht sich Ursula von der Leyen nicht gegen das Elterngeld aus:

„Ich habe dafür [einjähriges Elterngeld] eine gewisse Sympathie, aber wir haben als Union zunächst einen anderen Weg gewählt, nämlich den höheren Freibetrag.“ (Ursula von der Leyen, 15.7.2005)[22]

Der Siebte Familienbericht

Die von Renate Schmidt berufene Sachverständigenkommission unter Leitung des Soziologen Hans Bertram legte der Bundesregierung am 17. August 2005 den Siebten Familienbericht vor. Dieser Bericht war ein Wegbereiter des Elterngeldes, was auf eine spezielle Kombination von „Argumentation, Dissemination und Timing“ zurückzuführen ist.[23]

Zur Argumentation: Das parteipolitisch neutrale Wissenschaftlergremium legte 351 Seiten vor, die die Lebenswirklichkeit von Familien darstellen und eine nachhaltige Familienpolitik mit den drei Dimensionen Zeit, Geld und Infrastruktur empfehlen. Der Siebte Familienbericht argumentiert für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik und thematisiert „Zeit für Familien“.[24] Beides sind zentrale Argumentationslinien für das Elterngeld, die über die im Rürup-Gutachten bereits genannten Argumente – Opportunitätskosten reduzieren und Geburtenrate erhöhen – hinausgehen.

Konkret greift der Siebte Familienbericht das Elterngeld an drei Stellen auf: Zuerst wird es im Kapitel „Familien in Europa“ als positives Beispiel erwähnt. Das Kapitel „Nachhaltige Familienpolitik: Neue Balancen zwischen Erwerbsarbeit und Fürsorge im Lebenslauf“ beschreibt es als Baustein einer nachhaltigen Familienpolitik und im abschließende Kapitel zu den „Zukunftsszenarien“ wird das Elterngeld zur zentralen Empfehlung der Sachverständigenkommission. Dazu zeigt der Bericht die Elterngeld-Modelle Schwedens und Finnlands als positive Beispiele im Kontrast zum deutschen Erziehungsgeld auf.

Der Gleichstellungsaspekt spielt für die Autoren eine zentrale Rolle, da das Elterngeld hilft, die ökonomische Unabhängigkeit von Frauen zu gewährleisten. Die Autoren nennen ein weiteres Argument, das für Konservative schwergewichtig ist: Das Elterngeld wirkt einer „Abwertung von Fürsorgeleistungen“[25] entgegen. Demnach vermittelt das Erziehungsgeld die Logik, dass Fürsorgeleistungen deutlich weniger wert sind als Erwerbsarbeit, während beim Elterngeld die Gleichwertigkeit durch die einkommensabhängige Konzeption gewährleistet ist.

Zur Dissemination: Bereits während der Erarbeitung praktizierte die Familienberichtskommission einen intensiven Dialog mit anderen Akteuren. Zwischen dem 10. Februar 2004 und dem 12. April 2005 gab es elf Dialogveranstaltungen der Kommission mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und Interessengruppen. Eingebunden waren dabei u.a. die evangelische und katholische Kirche, Familienverbände (Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen, Zukunftsforum Familie, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge), Wissenschaft (Deutsche Gesellschaft für Soziologie) und die Sozialpartner (BDA, DGB). Die Ergebnisse des Siebten Familienberichts wurden durch Pressekonferenzen, Meinungsartikel der Autoren in Zeitungen und wissenschaftliche Transferpublikationen verbreitet. Beides, Dialog und Presseaktivitäten trugen zu einer nachhaltigen Wirkung der Öffentlichkeitsarbeit bei.

Zum Timing: Der Siebte Familienbericht entstand parallel zur Agenda Setting-Phase. Es gab mehrfach Rückkopplungsprozesse zwischen der wissenschaftlichen Arbeit der Kommission und der politischen Arbeit zur Strategiefindung und zum Agenda Setting. Mehr noch: Mit dem Elterngeld gab es ein gemeinsames Ziel zwischen den Wissenschaftlern und der Kernexekutive im BMFSFJ. Der Kabinettsbeschluss zur Einführung des Elterngeldes vom 5. September 2004 datiert ein knappes Jahr vor der offiziellen Vorlage des Familienberichts. Die Politik verstärkte die Wirkung des Familienberichts und umgekehrt verlieh der Familienbericht den Elterngeld-Plänen argumentativen Rückenwind. Dieser Rückenwind bezieht sich nicht nur auf die Medien, sondern auch auf die politischen Entscheidungsoptionen: Der Siebte Familienbericht bietet mit der ausführlichen Diskussion des finnischen und des schwedischen Elterngeld-Modells zwei Entscheidungsoptionen an, deren Übertragung einen Spielraum für die Entscheidung zur Ausgestaltung der deutschen Elterngeld-Reform erkennen lässt. Das schwedische Modell sieht einen 80-prozentigen und das finnische einen 67-prozentigen Lohnersatz vor. Das finnische Modell ermöglicht im Unterschied zu Schweden die Wahl zwischen Kinderbetreuungsplatz und einem Betreuungsgeld bis zum dritten Geburtstag eines Kindes. In der Phase, als hierzulande über Elterngeld und Betreuungsgeld als konträre Alternativen diskutiert wurde, wirft der Familienbericht ein Licht auf die Finnen, die darin keinen Gegensatz sehen, sondern beides kombinieren.

Elterngeld-Pläne und vorgezogene Bundestagswahlen

Die Elterngeld-Pläne wurden unter der rot-grünen Bundesregierung nicht mehr umgesetzt. Das hatte erstens einen zeitlichen Hintergrund: Das Elterngeld kam am 6. September 2004 auf die Agenda und durch die vorgezogenen Neuwahlen im Herbst 2005 beanspruchte ab 20. Mai 2005 der Wahlkampf alle Kräfte. Das Zeitfenster seit dem Agenda Setting bis zum Wahlkampfbeginn war also sehr knapp. Zweitens schätzte die rot-grüne Regierung vermutlich die Umsetzungschancen als gering ein, da es keine Bundesratsmehrheit gab und „massive Widerstände aus dem konservativen Lager“ (Henninger/Wahl 2010: 370) zu erwarten waren. Eine Verabschiedung des Elterngeldes unter Rot-Grün wäre ein Erfolg für die Regierung Schröder gewesen, den die Union ihr in der zweiten Hälfte der Wahlperiode nicht ermöglichen wollte und für den sie von eigenen Wählergruppen kritisiert worden wäre.

Wohlgemerkt: Der Siebte Familienbericht wurde entgegen der Planung mitten im Wahlkampf vorgelegt. Auch das Elterngeld wurde in den Bundestagswahlkampf „hineingezogen“, parteipolitisch diskutiert und damit ein Stück weit ideologisch diskreditiert. Das Wahlmanifest der SPD propagierte das Elterngeld. Laut SPD sollte es zum 1. Januar 2008 eingeführt werden (ausführlich siehe Dossier am Ende des Artikels). CDU und CSU lehnten es ab und warben für einen Kinderbonus in der Rentenversicherung. Die Ablehnung des Elterngeldes bei der FDP erfolgte aus anderen Gründen, sie wollte Steuern senken und keine neuen Sozialleistungen.

3) Politikformulierung und Entscheidung: Die Früchte des Agenda Settings ernten und zu Mehrheiten schmieden

Angesichts der ablehnenden Haltung in großen Teilen der Union gegenüber dem Elterngeld lag nun die Kernherausforderung darin, die Partei umzustimmen und mitzunehmen. Denn die Unterstützung der Partei ist Voraussetzung für Regierungshandeln, und die Mehrheitspartei einer Regierung mutiert allein durch Verweis auf den Koalitionsvertrag noch lange nicht zum Unterstützer. Fischer, Kießling und Novy verweisen darauf, dass „die Durchsetzbarkeit sachpolitischer Entscheidungen“ davon abhängt, „ob diese normativ mit der Parteilinie übereinstimmen. Änderungen im politischen Kurs bedürfen der Zustimmung der Partei.“[26] Die Übereinstimmung mit der Parteilinie war beim Elterngeld definitiv nicht der Fall im November 2005, als von der Leyen als Familienministerin vereidigt wurde. Im Gegenteil, man hatte gerade einen Wahlkampf mit anderen familienpolitischen Forderungen hinter sich und die Reduzierung der Berufspause für Mütter von drei Jahren auf ein Jahr widersprach dem konservativen Weltbild fundamental.

Im Folgenden werden einige Hintergrundinformationen für die Politikformulierungs- und Entscheidungsphase des ReformKompass skizziert. Die Analyse ist entlang der drei Dimensionen Kompetenz, Kommunikation und Durchsetzungsfähigkeit dargestellt. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass diese Dimensionen sich gegenseitig beeinflussen: Insbesondere zeigt sich die Kompetenz als Voraussetzung für gelungene Kommunikation und letztere als wichtiges Element für die Durchsetzungsfähigkeit.

Kompetenz

Familienministerin Renate Schmidt hatte eine Strategiegruppe berufen, die das Agenda Setting für das Elterngeld organisierte. Als Ursula von der Leyen neu ins BMFSFJ kam, musste sie entscheiden, inwieweit sie eigene Vertrauensleute und inwieweit Experten, die Mitarbeiter ihrer Vorgängerin sind, in der Strategiegruppe einsetzt. Sie setzte auf Malte Ristau als Leiter der Grundsatzabteilung des BMFSFJ. Er war ein wichtiger Akteur im Agenda Setting und auch als Autor sichtbar geworden, u.a. mit dem Aufsatz zum „ökonomischen Charme der Familie“.[27]

Der Stand der wissenschaftlichen Debatte war umfangreich aufgearbeitet. Das BMFSFJ räumte wissenschaftlichen Analysen und Wirkungen einen wichtigen Stellenwert ein, so dass man partiell von einem Evidence-Based-Policy-Ansatz sprechen kann.[28] Andere Länder wie Schweden und Finnland haben seit Jahrzehnten Erfahrungen mit dem Elterngeld. In Finnland ist es mit einem Betreuungsgeld kombiniert, was auch an der Schwierigkeit liegt, in einem dünn besiedelten Land flächendeckend bezahlbare Kitas bereitzustellen.

In Schweden hatte das Elterngeld, insbesondere durch veränderte Berechnungen für die Leistungshöhe beim zweiten Kind, einen deutlichen Effekt auf die Geburtenentwicklung.[29] Allerdings sind die dort höheren Geburtenraten auf eine Vielzahl politischer, institutioneller, kultureller und ökonomischer Faktoren zurückzuführen, so dass ein deutlicher Anstieg der Geburtenrate unmittelbar nach Einführung des Elterngeldes in Deutschland nicht zu erwarten ist. Dazu kommt, dass der Familienpolitik in der internationalen Forschung zum Wohlfahrtsstaat eine immer größere Rolle zugesprochen wird.[30]

Der überwiegende Teil der Experten aus der Wissenschaft sah ein Elterngeld positiv. Durch die Auswahl der Gutachter (siehe oben) lagen sozialwissenschaftliche und ökonomische Argumente für das Elterngeld vor, die von meinungsstarken und einflussreichen Persönlichkeiten (Bertram, Rürup) vertreten wurden. Dabei betonten die Experten die verschiedene Ziele und Wirkungen des Elterngeldes betont: Während das Rürup-Gutachten die demografischen und arbeitsmarktpolitischen Ziele hervorhebt, spielen im Siebten Familienbericht die Ziele Gleichstellung und Einkommenssicherung im Lebensverlauf eine dominierende Rolle.

Kommunikation

Unabhängig davon, ob man die verschiedenen Gutachten oder den späteren Gesetzentwurf betrachtet: Mit dem Elterngeld sind fünf unterschiedliche Zieldimensionen verbunden:

1. Einkommen in der Familiengründungsphase sichern

2. Zeit und Schonraum im ersten Jahr ermöglichen

3. Arbeitsmarktpolitisch: steigende Erwerbsbeteiligung von Müttern fördern

4. Gleichstellung (v.a. steigende Fürsorgebeteiligung von Vätern fördern)

5. Fertilität – Familiengründung erleichtern.

Die Inhaltsanalyse zu den Zielen des Elterngeldes in den Massenmedien bestätigt den Fünfklang der Ziele. Abbildung 1 zeigt, dass alle fünf Ziele vor und nach der Reform regelmäßig genannt werden. Die Analyse zeigt allerdings auch, dass manche Ziele wie „Geburtenrate erhöhen“ und „Einkommen verbessern“ eine prägendere Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung spielten.

„Bisher führt unsere großzügige Familienförderung (…) weder zu mehr Geburten noch zu einer vernünftigen Integration der Eltern in den Arbeitsmarkt. Hier müssen wir umsteuern. (…) (Das Elterngeld ist) eine interessante Idee. (…) Zudem können wir es uns angesichts eines verschärften Fachkräftemangels nicht leisten, auf gut qualifizierte Frauen und Mütter zu verzichten.“ (Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, 5.1.2005)[31]

„Gesamteinschätzung: Die Einführung des Elterngeldes gilt als Paradigmenwechsel in der Familienpolitik durch Orientierung an der Berufstätigkeit und -fähigkeit beider Elternteile. Sie entspricht damit einer langjährigen Forderung des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften und insbesondere der Gewerkschaftsfrauen.“ (Deutscher Gewerkschaftsbund, 27.6.2006)[32]

Ziele des Elterngeldes und daran interessierte Akteure

Diese unterschiedlichen Ziele sind für unterschiedliche Parteien und Interessengruppen zentral. Die Zitate belegen, dass das Elterngeld aus demografischen und arbeitsmarktpolitischen Motiven von den Arbeitgebern und aus gleichstellungspolitischen Motiven von den Gewerkschaften unterstützt wird. Die komplementäre Zielstruktur des Elterngeldes ist auch für die Akteurskonstellation in der Verhandlungsphase relevant.

Kraft zur Durchsetzung: Widersprüche in CDU/CSU in der Phase zwischen Koalitionsvertrag und Gesetzgebung

Innerhalb der Union gab es erhebliche Widersprüche, worauf die folgenden Zitate hinweisen:

„Es ist nicht an uns, den Menschen zu sagen, wie sie zu leben und ihre Familie zu organisieren haben. (…) Dass Menschen umso mehr für ihre Kinder bekommen, je höher sie verdienen, ist unsozial. Das entspricht nicht der Position der CDU.“ (Parteivize und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, 1.12.2005) [33]

„Je besser die Ausbildung der jungen Frauen und Männer ist, desto seltener entscheiden sie sich für Kinder. (…) [Wir haben uns] entschlossen, ein Elterngeld einzuführen. Es wird erstmals als Einkommensersatz ausgestaltet und zusätzlich mit einer Väterkomponente verbunden. Das ist ein neuartiger Ansatz in beide Richtungen. Ich ahne schon jetzt, welche Diskussionen er hervorrufen wird. Doch die Betriebe – das sage ich ganz ausdrücklich – sollen sich stärker als bisher in der Pflicht sehen, auch einmal die Väter zeitweise freizustellen.“ (Bundeskanzlerin Angela Merkel, 30.11.2005)[34]

„Es geht darum, dass mehr Kinder geboren werden, und nicht, wer spült.“ Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt (20.5.2006)[35]

„Am größten sind die Widerstände bei Unionsmännern zwischen Mitte 40 und Mitte 50 mit Kindern im Alter zwischen 10 und 15 Jahren. Die sehen ihr eigenes Lebensmodell infrage gestellt und, oft noch wichtiger, die Biografie ihrer eigenen Ehefrauen.“ (‚Ein Vertrauter Ursula von der Leyens‘, 27.4.2006)[36]

„Die große Koalition öffnet ein historisches Fenster für das Elterngeld. Dafür bedurfte es in beiden Parteien Überzeugungsarbeit. Meine Vorgängerin Renate Schmidt hat die Idee in der SPD schon vor der Wahl durchgesetzt. Ich habe aus meiner Sympathie dafür keinen Hehl gemacht. Es hat sich ausgezahlt, im Wahlkampf die Idee nicht zu bekämpfen, nur weil sie vom politischen Gegner kam. So können wir jetzt diesen Schritt gemeinsam gehen.“ (Ursula von der Leyen, 20.12.2005)[37]

„Wir müssen das Wickelvolontariat nicht haben. (…) Wenn's in den Familien funktioniert, kriegt man das auch so ganz gut hin.“ (CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer, 25.4.2006)[38]

Alle diese Zitate – und es ließen sich noch viele Elterngeld-kritische finden – stammen aus der Phase zwischen Koalitionsvertrag und Gesetzentwurf. Die Kritik von Rüttgers, Milbradt, Ramsauer und vielen anderen an den Elterngeldplänen ist angesichts eines vereinbarten Gesetzesvorhabens ungewöhnlich intensiv und breit. Merkels Zitat weist auf einen erwarteten Widerstand von den Arbeitgebern gegenüber den Vätermonaten hin. Von der Leyen äußerte sich als einzige Spitzenpolitikerin der Union, im Wahlkampf positiv zum Elterngeld. Bemerkenswert ist, dass Bundespräsident Köhler sich mit einer positiven Äußerung ein Stück weit in die Tagespolitik einmischte:

„Familien brauchen praktische Hilfe und finanzielle Entlastung. (…) Ein Elterngeld und die verbesserte steuerliche Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten weisen in die richtige Richtung.“ (Bundespräsident Horst Köhler, 18.1.2006)[39]

Akteurskonstellation in Parteien und Verbänden

Die Akteurskonstellation war folgendermaßen: Die SPD konnte nur schwer gegen das Elterngeld opponieren, da sie es selbst im Wahlkampf gefordert hatte. Allerdings war die Partei durch die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 in einem Richtungsstreit und insofern hätte die einkommensbezogene Leistung ein Problem werden können. Zumal sowohl Lebensverlaufsperspektive als auch Opportunitätskosten schwer kommunizierbar sind, wenn jemand den Vorwurf erhebt, dem Staat seien die Kinder von Zahnärzten, Politikern oder Beamten 1.800 Euro wert und die von Arbeitslosen, Geringverdienern oder Studenten nur 300 Euro. Statt der in der SPD klassischen Umverteilung werden hochqualifizierte Frauen besonders unterstützt, eine „exklusive Emanzipation“ mit Folgen für soziale Ungleichheiten.[40]

In der CDU waren Frauenpolitikerinnen für das Elterngeld und der überwiegende Teil, insbesondere der konservative Flügel, dagegen. Die CSU war deutlich dagegen. Ebenso viele Haushaltspolitiker angesichts der notwendigen Haushaltskonsolidierung ein Milliardenprojekt zu finanzieren. Ministerin von der Leyen dagegen war für das Elterngeld; bereits früher war sie als Leiterin der CDU-Kommission „Eltern, Kind, Beruf“ eine prägende Kraft für die Familienpolitik der CDU gewesen.

Parteivorsitzende war Angela Merkel, von ihr als neuer Kanzlerin hing 2005 vieles ab. Aufgrund ihrer ostdeutschen Biografie war zu erwarten, dass sie die konservativen Bedenken gegenüber einer verkürzten Elternzeit nicht teilte und das Elterngeld vertritt wie andere Beschlüsse im Koalitionsvertrag auch. Allerdings hatte Merkel ihr politisches Schicksal keinesfalls mit dem Elterngeld verbunden, eine „Nicht-Lieferung“ hätte ihre Glaubwürdigkeit nicht infrage gestellt. Merkel konnte die Reformbemühungen von der Leyens erst einmal beobachten, moderieren und abwarten, wie sich die Stimmung in der CDU und in der Öffentlichkeit gegenüber dem Elterngeld entwickelte. Die konservativen Kräfte störten sich neben der kürzeren Berufspause für Mütter vor allem an den expliziten Partnermonaten, die sie als Zwang interpretierten. Diese waren jedoch für die SPD elementar wichtig.[41]

Zu den gesellschaftlichen Akteuren und Verbänden[42]: Die Arbeitgeber positionierten deutlich für ein Elterngeld, damit Mütter möglichst früh in den Arbeitsmarkt zurückkehren können. Teile der Katholischen Kirche sprachen sich gegen das Elterngeld aus. Aus der Wissenschaft gab es mehrere öffentlich wahrnehmbare Befürworter. In den Medien hielten sich Lob und Kritik zum Elterngeld zu Beginn der Amtszeit von der Leyens die Waage.

Da das Elterngeld ein neues Instrument war, gab es damals mehrere Handlungsoptionen und Lösungsalternativen:

  • Die Länge der Laufzeit muss nicht ein Jahr sein, sie kann auch 10, 12, 14 oder 18 Monate betragen.
  • Die prozentuale Höhe der Ersatzleistung kann sich an den finnischen 67 Prozent, den schwedischen 80 Prozent oder anderen Werten orientieren.
  • Das Minimum ist ebenso eine Stellschraube wie der Maximalwert.
  • Verhandlungskorridore gibt es auch bei der Frage, ob und wie viele explizite Partnermonate, also Vätermonate, vorgesehen sind.
  • Eine weitere Handlungsoption ist das Junktim mit der Einführung eines Betreuungsgeldes.
  • Der Zeitpunkt der Einführung kann früher oder später sein.
  • Ob Elterngeld bei ALG II-Empfängern gezahlt bzw. angerechnet wird oder nicht, sind weitere Handlungsoptionen, ebenso Zuschläge für Geschwister oder Alleinerziehende.

4) Umsetzung im deutschen Föderalismus

Der Schwerpunkt dieser Analyse bezieht sich auf die Reformphasen bis zur Verabschiedung des BEEG (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz) in Bundestag und Bundesrat Ende 2006. Allerdings werden der Vollständigkeit halber die zentralen Ereignisse der folgenden Reformphasen mit abgebildet und die Herausforderungen in diesen Phasen bei der Elterngeld-Reform skizziert.

Bei der Umsetzung des Elterngeldes gab es eine politisch-administrative und eine inhaltlich-pragmatische Herausforderung. Erstere lag darin, dass das vom Bund finanzierte Elterngeld durch die Bundesländer ausgezahlt wird. Es galt, je nach Land unterschiedliche Institutionen zu finden, die innerhalb der kurzen Zeit zwischen Ausfertigung des BEEG (5. Dezember 2006) und Beginn der Auszahlungen (Geburten ab 1. Januar 2007) entsprechende Kapazitäten aufbauen. Dafür wurden am 18. Dezember 2006 Richtlinien fixiert, die von Bund und Ländern gemeinsam vereinbarte Handlungsanweisungen enthalten. Die Geschwindigkeit der Bearbeitung war essenziell, da das Elterngeld das wegfallende Erwerbseinkommen ersetzen sollte, was zeitnah geschehen muss. Da ein Antrag das Geburtsdatum des Kindes enthalten muss, lag hier eine große Herausforderung, denn das Elterngeld sollte spätestens zwei Wochen nach Antragstellung ausgezahlt werden.

Die inhaltliche Herausforderung lag in der Ermittlung des bisherigen Einkommens. Diese muss genau sein und schnell vorliegen, was gerade für kompliziertere Konstellationen pragmatischer Lösungen bedurfte. Das erste Änderungsgesetz des BEEG, dessen Entwurf die Regierungskoalitionen am 3. Juni 2008 eingebrachten, beinhaltet speziell Prozeduren zur Vereinfachung der Einkommensermittlung. Gerade die Ziele des Elterngeldes (siehe Kapitel 2c) stehen und fallen mit einer schnellen und pragmatischen Umsetzung auf Verwaltungsebene.

5) Fortlaufende Erfolgskontrolle und Kommunikation von positiven Effekten des Elterngeldes

Die fortlaufende Erfolgskontrolle wurde beim Elterngeld besonders systematisch verankert. Dafür gibt es Ursachen, die mit den Spezifika des Agenda Settings begründet sind. Hier zeigt sich, wie die Reformphasen ineinandergreifen und sich beeinflussen. Die Kommunikation verschiedener Ziele in der Agenda Setting-Phase führte zu einer Evaluation speziell im Hinblick auf diese Ziele. Diese Evaluation wurde durch Aufträge zur Datenerfassung in einer Elterngeldstatistik an das statistische Bundesamt und zu einzelnen Wirkungsanalysen an Forschungsinstitute implementiert. Dazu kommt, dass das Bundesfinanzministerium und das BMFSFJ im Jahr 2008 gemeinsam eine umfassende Gesamtevaluation familienpolitischer Maßnahmen beschlossen.

Die Erfolgskontrolle mündete und mündet noch heute in die Diskussion über Modifizierungen des Elterngeldes. Für Komponenten, die sich als besonders erfolgreich herausstellen, gibt es Forderungen nach einem Ausbau des Elterngeldes. Ein Beispiel ist die Väterbeteiligung, die von rund vier auf knapp 30 Prozent hochgeschnellt ist.[43] Bei Zielen, deren Zielerreichung weniger erfolgreich war, erheben die entsprechenden Interessengruppen und Parteiflügel Forderungen nach einer Reduzierung oder gar Abschaffung des Elterngeldes. Dies wurde besonders deutlich, als CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder am 6. Juli 2012 das Elterngeld in Frage stellte, da er von den demografischen Effekten enttäuscht war.[44]

Der Kommunikation der Ergebnisse verschiedener Evaluationen auf verschiedene Ziele kommt eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung des Elterngeldes in der Öffentlichkeit zu. Wissenschaftler und die Kommunikationsstrategie der Kernexekutive haben einen erheblichen Einfluss auf die Akzeptanz und damit auf die dauerhafte Etablierung des Elterngeldes.[45]

Für den Reformprozess zentrale Informationen und Quellen

Im Folgenden sind aus einigen für die Entstehung des Elterngeldes maßgeblichen Dokumenten Zitate ausgewählt, um einen Einblick in zentrale Quellen zu bekommen. Die Zitate werden kurz kommentiert, zur zeitlichen Einordnung siehe Tabelle 3.

Wissenschaftliche Gutachten

Das Rürup-Gutachten, das am 16. November 2003 im Auftrag des BMFSFJ erschien und gemeinsam mit Familienministerin Renate Schmidt publiziert wurde, nennt als erste konkrete Maßnahme einer nachhaltigen Familienpolitik die Einführung eines Elterngeldes. Dabei ist der Prozentsatz 67 der Lohnersatzleistung bereits vorgeschlagen.

„Der Leitgedanke ist, die Opportunitätskosten, die durch den Einkommensverlust entstehen, abzumildern, indem an ein Elternteil, das seine Erwerbstätigkeit unterbricht bzw. reduziert, um das Kind zu erziehen, ein so genanntes Elterngeld ausgezahlt wird. Durch ein Elterngeld, das sich grundsätzlich an der Höhe des vor der Geburt gezahlten Nettogehalts orientiert, soll dieser Einkommensverlust gering gehalten werden. Das Elterngeld ersetzt das Erziehungsgeld und sollte im Durchschnitt deutlich über dem heute gezahlten Höchstbetrags des Erziehungsgeldes liegen. Eine relativ hohe Leistung für Eltern während der Elternzeit hat auch in den skandinavischen Ländern zum ‚Erfolg‘ der Familienpolitik beigetragen. (…) Denkbar wäre für das Elterngeld z.B. eine Höhe von 67 % des Nettolohnes.“ (Rürup/Gruescu 2003: 56)

Das Bertram-Gutachten, am 3. Mai 2005 veröffentlicht, nimmt einige Argumente vorweg, die wenig später im Siebten Familienbericht publiziert werden.

„Wir sind allerdings auch der Meinung, dass die Einführung eines Elterngeldes als Lohnersatz sowohl Modelle der Vollerwerbstätigkeit wie aber auch das Modell der adaptiven Lebensführung positiv unterstützen kann. Denn in einem Modell des Elterngeldes als Lohnersatz wird deutlich gemacht, dass die Entscheidung, sich für eine bestimmte Zeit verantwortlich um das eigene Kind zu kümmern, aus gesellschaftlicher Sicht genauso wichtig ist wie der Beruf, der gerade ausgeübt wird. Ein solches Elterngeld macht aber auch deutlich, dass diejenigen, die eine persönliche Verantwortung für ihre Kinder übernehmen, deswegen nicht auf ihre eigene ökonomische Selbstständigkeit verzichten müssen.“ (Bertram et al. 2005: 48)

In der am 17. August 2005 veröffentlichten Presseerklärung zum Siebten Familienbericht, der aufgrund der vorgezogenen Bundestagswahlen mitten im Wahlkampf erschien, bekennt sich Renate Schmidt deutlich zum Elterngeld. Zudem konkretisiert sie Länge, Einkommensersatz und als Zeitpunkt der Einführung das Jahr 2008.

„Wir werden das bisherige Erziehungsgeld zu einem einjährigen Elterngeld als Einkommensersatz weiterentwickeln. Dieser Weg hat sich vor allem in Skandinavien bewährt. Das Elterngeld ersetzt etwa zwei Drittel des vorherigen Einkommens (mit Höchstgrenze) und kommt dem Elternteil zugute, der für die Erziehung der Kinder seine Erwerbstätigkeit unterbricht. Dadurch ist sichergestellt, dass Familien ihren Lebensstandard halten können, auch wenn sie ihre Berufstätigkeit unterbrechen. Da die materiellen Einbußen für die Familie geringer ausfallen, haben die Väter bessere Möglichkeiten, Elternzeit in Anspruch zu nehmen. (…) Der Einstieg in das neue Elterngeld soll ab 2008 erfolgen, da diese Leistung einen erheblichen Ausbau der Kinderbetreuungsangebote für unter Dreijährige voraussetzt.“ (Schmidt 2005: 2)

Wahlprogramme 2005

Das Wahlmanifest der SPD vom 4. Juli 2005 hält die Pläne eines einkommensabhängigen Elterngeldes fest. Die Dauer von zwölf Monaten ist erwähnt, jedoch keine konkreten Zahlen zur Ausgestaltung der Zahlung und auch keine exklusiven Vätermonate.

„Wir werden das bisherige Erziehungsgeld in ein für ein Jahr gezahltes Elterngeld mit Einkommensersatzfunktion umwandeln. Wir stellen dadurch sicher, dass Familien ihren Lebensstandard, auch wenn sie ihre Berufstätigkeit unterbrechen, halten können. Die Gleichstellung der Frau wird so gefördert. Väter haben dadurch bessere Möglichkeiten Elternzeit in Anspruch zu nehmen. Durch bessere Betreuungsmöglichkeiten für unter Dreijährige und Elterngeld vermeiden wir insbesondere bei Alleinerziehenden Kinder- und Familienarmut und sichern allen Eltern eine ununterbrochene Erwerbsbiographie. Wir halten an der dreijährigen Elternzeit mit Arbeitsplatzgarantie und Teilzeitanspruch fest.“ (SPD 2005: 31)

Das Regierungsprogramm der Union vom 11. Juli 2005 thematisiert das Elterngeld überhaupt nicht. Es kritisiert die niedrigen Geburtenraten als Politikversagen von Rot-Grün und setzt als Alternative auf den besonderen Schutz von Ehe und Familie sowie auf Bildung. Als konkrete Maßnahme neben Steuerpolitik und Kita-Ausbau verspricht die Union einen Kinderbonus in der Rentenversicherung.

„Während viele Mitbürger in Deutschland mit überwältigender Mehrheit die Gründung einer eigenen Familie als persönliches Lebensziel ansehen, verwirklichen immer weniger Menschen den bestehenden Kinderwunsch. Deutschland ist bei der Geburtenrate Schlusslicht in Europa! Die Bundesregierung hat den Stellenwert von Ehe und Familie in den letzten Jahren zunehmend relativiert. (…) Wir stehen zum besonderen Schutz von Ehe und Familie.“ (CDU/CSU 2005: 23)

„Wir werden ab 01.01.2007 für neugeborene Kinder einen Kinderbonus von monatlich 50 Euro als Beitragsermäßigung in der Rentenversicherung einführen. Diese Leistung gibt es für Kinder bis zum 12. Lebensjahr.“ (CDU/CSU 2005: 29)

Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD

Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom 11. November 2005[46] ist das Vorhaben eines Elterngeldes explizit und detailliert an zwei Stellen erwähnt: Im finanz- und haushaltspolitischen Teil in Kapitel II unter dem Titel „Staatsfinanzen nachhaltig konsolidieren“ sowie in Kapitel VI unter dem Titel „Familienfreundliche Gesellschaft“. Bemerkenswert ist die unterschiedliche Zieldefinition: Während die Finanzpolitiker geburtensteigernde Motive betonen, sind es bei den Familienpolitikern Ziele in Bezug auf Einkommen und Wahlfreiheit. Einige Kernpunkte des zum 1. Januar 2007 eingeführten BEEG wurden bereits im Koalitionsvertrag genannt, einige Punkte haben sich im Formulierungs- und Entscheidungsprozess jedoch verändert.

„Deutschland braucht mehr Kinder. Das Wohl der Familien, ihrer Kinder und das Ziel, dass sich wieder mehr Menschen ihre Kinderwünsche erfüllen, ist deshalb das wichtigste gesellschaftliche Anliegen der nächsten Jahre. Deshalb werden wir ab 2007 mit dem Elterngeld eine einkommensabhängige Leistung für die Eltern neugeborener Kinder schaffen, das diese in einem Gesamtvolumen von drei Mrd. Euro fördert. Für ein Jahr erhält ein Elternteil 67 % des letzten Nettoeinkommens bis zu 1.800 Euro monatlich. Den Bedürfnissen gering verdienender Eltern wird durch eine Mindestleistung Rechnung getragen, die die soziale Ausgewogenheit gewährleistet. Das Elterngeld wird den Eltern im Zusammenspiel mit dem Ausbau der Kinderbetreuung die Erfüllung ihrer Kinderwünsche ermöglichen und dadurch einen wichtigen Beitrag zur Lösung der drängenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme leisten.“ (CDU, CSU, SPD 2005: S. 79)

„Wir wollen die wirksame und nachhaltige wirtschaftliche Sicherung von Familien unmittelbar nach der Geburt von Kindern durch ein Elterngeld fördern zur Vermeidung von Einkommenseinbrüchen (Einkommensersatzfunktion), Eröffnung tatsächlicher Wahlmöglichkeiten einer Betreuung zwischen Vätern und Müttern und zur Förderung der wirtschaftlichen Selbstständigkeiten beider Elternteile und dem angemessenen Ausgleich der Opportunitätskosten.“ (CDU, CSU, SPD 2005: S. 117)

Im Koalitionsvertrag sind einige Eckpunkte der konkreten Ausgestaltung des Elterngeldes bereits festgelegt:

„– Das Elterngeld ersetzt als Einkommensersatzleistung 67 % des vorherigen, pauschalierten Nettoerwerbseinkommens (maximal 1.800 Euro pro Monat) des-/derjenigen, der/die auf eine Erwerbstätigkeit wegen der Betreuung des Kindes verzichtet oder diese einschränkt. Alternativ ist zu prüfen, ob Bemessungsgrundlage das gemeinsame Nettoerwerbseinkommen der Eltern (Gleichstellung der Geschlechter), bei Alleinerziehenden das alleinige Nettoerwerbseinkommen sein soll.

– Das Elterngeld wird um ein Leistungselement für Eltern mit geringen Einkommen oder nichterwerbstätige Eltern ergänzt (Sockelbetrag), (…)

– Soziale Transferleistungen werden auf das Elterngeld angerechnet. Das Elterngeld wird nicht als Einkommen im Rahmen des Wohngeldes berücksichtigt.

– Das Elterngeld wird für ein volles Jahr gezahlt unter Anrechnung des zweckgleichen Mutterschaftsgeldes. Eltern können wählen, ob sie das volle Elterngeld-Budget auf bis zu zwei Jahre verteilen wollen.

– Die zwölf Monate des Bezugszeitraums können zwischen den Eltern aufgeteilt werden. Zwei Monate bleiben dem Vater, zwei Monate der Mutter reserviert.

– Die Leistung ist steuerfinanziert, steuer- und abgabefrei, bestimmt jedoch den steuerlichen Progressionsvorbehalt.

– Die bisherigen Regelungen zur Elternzeit bleiben erhalten. Teilzeittätigkeit während des Bezugs ist möglich. Es ist zu prüfen, in welcher Höhe das Elterngeld bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im Rahmen der Elternzeit gezahlt werden kann und ab welcher Höhe des Haushaltseinkommens es gegebenenfalls entfällt.

– Die Einführung des Elterngeldes ist ab 2007 vorgesehen.“ (CDU, CSU, SPD 2005: 117–118)

 

Elterngeld im Kontext des Ausbaus der Kinderbetreuung

Bemerkenswert ist, dass das Elterngeld sogar schon 2007 eingeführt werden sollte, also ein Jahr früher, als Ministerin Schmidt es geplant hatte. Hintergrund war, dass Schmidt ein weiteres Vorankommen im Ausbau der Kleinkindbetreuung als eine Voraussetzung angesehen hatte.

Denn Elterngeld und Kinderbetreuung sind logisch miteinander verknüpft: Das Elterngeld soll in den ersten zwölf Monaten gezahlt werden. Anschließend sollte die Rückkehr von Müttern in den Beruf möglich sein, wofür Kita-Plätze eine Voraussetzung sind. Der Ausbau der Kleinkindbetreuung wurde durch das 2004 verabschiedete Tagesbetreuungsausbaugesetz (230.000 neue Betreuungsplätze bis 2010) und das 2008 verabschiedete Kinderförderungsgesetz (Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kleinkinder) vorangetrieben. Allerdings benötigt dieser ehrgeizige Ausbau mehrere Jahre Zeit und selbst bei einer Einführung des Elterngeldes 2008 (oder gar 2010) wären nicht genügend Betreuungsplätze für die kombinierte Logik beider Reformen vorhanden gewesen – mit Ausnahme der ostdeutschen Bundesländer.

Die Betreuungsquote für unter Dreijährige hat sich seit Beginn der Amtszeit von der Leyens bis heute etwa verdreifacht: Sie lag 2005 bei unter 13, 2009 bei 20,2 und 2013 bei 29,3 Prozent (jeweils 1. März) und stieg bis zum Rechtsanspruchsbeginn im August 2013 nochmal deutlich an (siehe Abbildung 2).

Frauen in Westdeutschland, die bis 2012 für ein Jahr Elterngeld bezogen, konnten sich nicht darauf verlassen, im Anschluss daran einen Betreuungsplatz für das einjährige Kind zu erhalten, um wieder arbeiten zu können. Ostdeutsche Frauen dagegen konnten sich bereits zu DDR-Zeiten auf quantitativ ausreichende Kita-Angebote verlassen. Die Betreuungsquote lag in Ostdeutschland 2006 bei rund 40 Prozent, während sie im Westen nur 7,8 Prozent erreichte. Das geringe Angebot an Kita-Plätzen war damit ein gewichtiges Argument für einen Aufschub des Elterngeldes um mehrere Jahre im Vergleich zur Planung des Koalitionsvertrags.