Regierungsgebäude
© compassandcamera / iStockphoto.com

Lehr-Fallstudien: Sicherheitsrat

Die deutsche Entscheidung, sich der Abstimmung zur Sicherheitsratsresolution 1973 zu enthalten, war für internationale Beobachter eine Überraschung. Inmitten einer Vielzahl von Akteuren und angesichts eines sich rasant wandelnden Umfeldes war die Bundesregierung gezwungen, internationale wie auch nationale Herausforderungen zu jonglieren. Die Entscheider der Bundesrepublik sahen sich zeitgleich mit der Frage konfrontiert, wie auf die krisenhaften Entwicklungen in Libyen reagiert werden sollte, als auch mit den Folgen der Reaktorkatastrophe in Fukushima, dem daraus resultierenden Umbau deutscher Energiepolitik und bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Die Lehrfallstudie wird die Spezifika krisenhaften Entscheidens beleuchten, das sich durch hohe Komplexität, eine Vielzahl eingebundener Akteure, Zeitdruck und widerstreitende normative Grundsätze auszeichnet.

  • PDF

Deutschland und die Schutzverantwortung

Krisenhaftes Entscheiden anlässlich der Abstimmung zum Libyeneinsatz 2011

1. Krise und Entscheidung in der Außenpolitik – Einführung
„Es war eine kleine Runde, die nach der Kabinettssitzung an diesem Mittwoch zusammenkam. Die Kanzlerin war dabei und die Minister für Außen, Verteidigung, Finanzen und Wirtschaft. Fünf Personen, die innerhalb weniger Minuten die wohl größte außenpolitische Neuausrichtung der Bundesrepublik seit langem beschlossen haben: Erstmals ist die Bundesregierung bereit, Waffen in ein akutes Krisengebiet liefern, in den Nordirak. In ein Gebiet also, in dem gerade bis aufs Blut und mit äußerster Brutalität gekämpft wird.“[1]

Im August 2014 wurde die internationale Gemeinschaft mit der Möglichkeit eines Genozids an einer Gruppe von Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Yeziden im Norden des Irak konfrontiert.[2] Angesichts der rapiden Ausbreitung und der Brutalität mit der die Terrorgruppe eines selbst erklärten Islamischen Staates in Syrien und im Irak wütete, stellte sich die Frage, wie diese Welle von Massakern und Gewalt aufgehalten werden könnte. Hatte die internationale Gemeinschaft zu Beginn des Vormarsches der IS noch angenommen, dass dieser bald eingedämmt werde, wurden diese durch immer neue Schreckensmeldungen über deren Gewalttaten und deren unaufhaltsames Vorrücken eines Besseren belehrt. Der Handlungsdruck wurde insbesondere durch die verzweifelte Lage von Tausenden Yeziden erhöht, die aus ihren Dörfern in den vermeintlichen Schutz des Sindschar-Gebirges geflohen waren. Dort waren sie jedoch von der Terrorgruppe weiterhin umzingelt und bedroht; sie hatten zugleich nach kurzer Zeit keine Lebensmittel, Wasser oder humanitäre Grundversorgung mehr. Exemplarisch stand das drohende Leid der Yeziden für die nicht zu unterschätzende Gefahr durch die IS, die nach neuen Lösungen verlangte. Nicht nur in Deutschland führte dies zu einer intensiven Debatte über angemessene Mittel, eine absehbare humanitäre Katastrophe oder Schlimmeres abwenden zu können. Die Bundesregierung entschied sich unter dem Druck der Ereignisse für die Lieferung von Waffen an kurdische Verbände in der Region – verbunden mit der Hoffnung, dass diese effektiver als die irakische Armee gegen die Terrorgruppe vorgehen könnte, aber auch auf den ersten Blick im Konflikt mit einer lange etablierten Grundlinie deutscher Außenpolitik: des Verbots der Lieferung von Waffen in Krisengebiete. Die Meinungslage in der Regierung änderte sich in einem Entscheidungsdreieck zwischen Kanzleramt, Außen- und Verteidigungsministerium sowie in den Spitzen der Regierungsparteien innerhalb weniger Tage von Ablehnung hin zu Unterstützung. Angesichts der hohen Dynamik im Meinungsbildungs-, Abstimmungs- und Entscheidungsprozess wurde der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, auf der Bundespressekonferenz vom 13. August mit der Frage konfrontiert, wie denn ein solch abrupter Wechsel in einer Grundposition Deutschlands zu erklären sei. Seibert antwortete: „Außenpolitik muss ja immer Grundsätze haben und auf Entwicklungen reagieren. Deutschland hat solche Grundsätze beim Rüstungsexport. Auf deren Gültigkeit habe ich am Montag hingewiesen. Grundsätze lassen auch immer Beurteilungsspielräume zu. Wir sind bereit, in der dramatischen Situation, die sich im Nordirak zeigt, wenn nötig, Beurteilungsspielräume auszuschöpfen.“[3] Die „dramatische Situation“ beschrieb Seibert wie folgt: „Wir erleben den Vormarsch von Menschen, denen nichts heilig ist, obwohl sie sich ständig auf die Religion berufen. Die weder Frauen noch Kinder schonen und die in ihrem Kampf gegen Andersdenkende und Andersglaubende eine enorme Grausamkeit an den Tag legen. Das geht uns alle an. Diesen Vormarsch zu stoppen, den verfolgten, notleidenden und traumatisierten Menschen zu helfen, ist eine Aufgabe für die gesamte internationale Gemeinschaft. Da kann und soll auch jeder nach seinen Möglichkeiten helfen.“[4] Ohne die entsprechenden Fachtermini zu nutzen, gründet die Argumentation Seiberts für eine grenzüberschreitende Verantwortung der Staatengemeinschaft angesichts von Massaker und dem massenhaften Verlust von Menschenleben auf der Idee einer Schutzverantwortung („responsibility to protect“) – ein Konzept, das in den letzten Jahren beachtliche Aufmerksamkeit gefunden hat.[5]


Als eine erste, herausgehobene Realisierung dieses Konzepts wird allgemein die Entscheidung des Sicherheitsrates vom März 2011 identifiziert, mit der eine Flugverbotszone und weitere Zwangsmaßnahmen gegen das Regime des libyschen Staatsführers Gaddafi autorisiert wurden.[6] Auch 2011 ging es (angesichts eines angekündigten Massakers an den Regimegegnern in der Stadt Benghasi) innerhalb kurzer Zeit darum, wie sich Deutschland, das damals nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates war, als Teil der internationalen Gemeinschaft verhalten würde. Auch hier gab es eine „dramatische Situation“ in der „Grundsätze“ und „Beurteilungsspielräume“ in unterschiedlicher Konstellation gegeneinander standen. Deutschland enthielt sich schlussendlich bei der Abstimmung; die Resolution erlangte jedoch die erforderliche Mehrheit der Stimmen und führte zur Abwendung der Bedrohungssituation in Benghasi, in der Folge aber auch zum Sturz des Gaddafi-Regimes.


Über die Begründung und Wertung des deutschen Verhaltens angesichts der Libyen-Krise sind zwischenzeitlich eine ganze Reihe von Einschätzungen und Analysen veröffentlicht worden (vgl. unter anderem: Fröhlich 2011; Rinke 2011; Müller 2011; Merkel 2011; Brockmeier 2012; Lindström/Zetterlund 2012; Seibel 2013).[7] Die Analyse von Wolfgang Seibel kommt dabei zu dem Schluss, dass hinter der Entscheidung eine „in sich widersprüchliche Haltung der deutschen Regierung“ steht, die „langfristig angelegt und durch einen impliziten Konsens der politischen Klasse in Deutschland getragen war und ist“. Er fügt hinzu: „Diese Widersprüche sind durch mangelnde Professionalität in der Regierungstechnik angesichts einer sich mit hoher Dynamik verschärfenden internationalen Krise nur besonders deutlich hervorgetreten.“[8] Gegenstand dieser Lehrfallstudie ist weniger die normative und politische Beurteilung der deutschen Positionierung als vielmehr die Illustration eines Prozesses krisenhafter Entscheidung. Die Libyen-Entscheidung wird in diesem Sinne nicht als Auslöser einer Krise deutscher Außenpolitik dargestellt, sondern als Beispiel des außenpolitischen Entscheidens in einer durch äußere Umstände hervorgerufenen Krise. Eine solche Krise stellt einen „turning point“ in diplomatischer, wirtschaftlicher oder militärischer Hinsicht dar. Die gemeinsamen Faktoren einer Krisensituation umfassen die Gefährdung der grundlegenden Werte der beteiligten Akteure, das Vorhandensein von gesteigerten Unsicherheiten in der Zukunft, sowie das Gefühl von Dringlichkeit angesichts sich rasch verändernder äußerer Umstände.[9] Für die beteiligten Akteure bedeutet dies das Konfrontiert sein mit Unvorhergesehenem, großer Druck und ein enges Zeitfenster für eine Reaktion. Daher konzentriert sich in einer Krisensituation auf den Entscheider einer Gruppe eine bedeutsame Machtfülle, da es der vorherrschende Zeitdruck nicht ermöglicht, zahlreiche Optionen durchzuspielen oder unterschiedliche Meinungen einzuholen.[10] In den beteiligten Akteuren erzeugt dies den Wunsch, die in Bewegung geratenen Umstände zu stabilisieren. Damit einhergehend zeigt sich, dass die Strategiekompetenz der politischen Hauptakteure maßgeblichen Einfluss auf das Gelingen politischer Prozesse hat. Gerade in Krisensituationen ist die Betrachtung der Problemlösungskompetenz politischer Entscheider für die Genese zukünftiger Prozesse daher von großer Bedeutung.[11]   

Im Zuge des Entscheidungsprozesses um Resolution 1973 sahen sich Kanzlerin Angela Merkel, Außenminister Guido Westerwelle, zusammen mit seinem Stab im Auswärtigen Amt und in der Ständigen Vertretung Deutschlands bei den Vereinten Nationen in New York sowie Verteidigungsminister Thomas de Maizière mit rasanten Entwicklungen konfrontiert. Dem Außenminister kam dabei eine herausgehobene Position zu, da er am kontinuierlichsten bei den multilateralen Treffen beteiligt war. UNO-Politik galt zudem (etwa im Unterschied zur Europapolitik) als ein Politikfeld, in dem das Außenamt die Federführung innehat. Dies hängt auch am Umstand, dass das Außenministerium über die Ständige Vertretung Deutschlands bei den Vereinten Nationen die operative Vertretung deutscher Politik in New York darstellt. Bundesverteidigungsminister Lothar De Maizière war dagegen nach dem Rücktritt Karl-Theodor zu Guttenbergs erst kurze Zeit im Amt.[12] Dieser Rücktritt hatte im Übrigen seinerseits die Aufmerksamkeit der Bundesregierung beansprucht. Kanzlerin Angela Merkel war zudem eng in die Reaktion auf die Fukushima-Katastrophe eingebunden. Wie auf der Grundlage der bislang vorliegenden Quellen zu zeigen sein wird, fiel jedoch die schlussendliche Entscheidung zur Enthaltung bei der Libyen-Resolution als gemeinsame Entscheidung.[13]Innerhalb des Amtes kam es auch im Zusammenhang der Entwicklungen des Arabischen Frühlings zur Konzentration eines Zirkels von wesentlichen Akteuren. Dies kann als eine bewusste Entscheidung der Handlungsfähigkeit der Kerngruppe gesehen werden. Die regelmäßige, tägliche „außenpolitische Lage“ führte im Auswärtigen Amt die Politische Direktorin Emily Haber, den Nahostbeauftragten Andreas Michaelis, den Leiter der Abteilung Vereinte Nationen, Michael Freiherr von Ungern-Sternberg, den Büroleiter des Außenministers Thomas Bagger, den Sprecher des Auswärtigen Amtes Andreas Peschke und Deutschlands Botschafter bei den Vereinten Nationen, Peter Wittig, zusammen, der aus New York zugeschaltet wurde.[14]

2. Libyen
Die Ereignisse in Libyen, die zur Sicherheitsratsresolution 1973 führten, sind nicht ohne den Gesamtzusammenhang des arabischen Frühlings zu erfassen.[15] Nachdem Proteste in Tunesien dafür gesorgt hatten, dass Präsident Ben Ali am 14. Januar 2011 ins Exil floh, griff die Bewegung auf andere Staaten Nordafrikas über. Massenproteste brachen in Ägypten aus und führten zur Beendigung der seit dreißig Jahren währenden Diktatur Husni Mubaraks. Inspiriert von den Erfolgen der Proteste griff das Aufbegehren der Zivilbevölkerung auch auf Libyen über, wo Muammar al-Gaddafi seit 1969 regierte. Vier Tage nach Mubaraks Rücktritt in Ägypten, am 15. Februar 2011, begannen im libyschen Benghasi Proteste gegen den libyschen Staatsführer. Innerhalb weniger Tage weiteten sich die Demonstrationen im Land auf vier große Städte aus, erste Meldungen von Todesopfern wurden publik.[16] Am 20. Februar forderte die Außenbeauftragte der Europäischen Union, Catherine Ashton, die libysche Regierung dazu auf: „[…] Zurückhaltung zu üben, Ruhe zu bewahren und unverzüglich davon abzulassen, mit Gewalt gegen friedliche Demonstranten vorzugehen.“[17] Am 21. Februar 2011 bat der stellvertretende ständige Vertreter Libyens, Ibrahim Al Dabashi, (der sich zuvor vom Regime Gaddafis losgesagt hatte,) um ein Treffen des Sicherheitsrates, das sich mit der Situation im Land auseinandersetzen sollte. Zeitgleich forderte er die Vereinten Nationen dazu auf, eine Flugverbotszone über libyschen Städten einzurichten.[18] Nachdem der Generalsekretär der Vereinten Nationen Gaddafi bereits in einem Telefongespräch dazu aufgefordert hat, die Gewalt zu stoppen, wandte sich am 22. Februar 2011 die Hohe Kommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, an die Öffentlichkeit und verurteilte die Vorgänge im Land.[19] Am gleichen Tag kritisierte auch die Arabische Liga die libysche Führung scharf, schloss diese von ihren Treffen aus und sprach den libyschen Rebellen ihre Unterstützung aus.[20] Im weiteren Verlauf des 22. Februars trat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zusammen. Er begrüßte in einem Pressestatement die Resolution der Arabischen Liga, verurteilte die Vorgänge in Libyen und forderte die libysche Führung dazu auf, ihrer Schutzverantwortung der Bevölkerung gegenüber nachzukommen: „The members of the Security Council called on the Government of Libya to meet its responsibility to protect its population“.[21] Damit war auch terminologisch aus der Libyen-Krise eine „R2P-Situation“ geworden. Am 23. Februar trat der Peace and Security Council der Afrikanischen Union zusammen und forderte im Abschlusskommuniqué dieses Treffens einerseits die libysche Regierung dazu auf, den Schutz und die Sicherheit der Bevölkerung sicher zu stellen und wandte sich andererseits an alle Parteien im Land mit der Aufforderung zusammen zu arbeiten, um eine Lösung des Konfliktes zu erreichen.[22]


Am 25. Februar 2011 nahm der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen einstimmig Resolution S-15/1 an, in welcher unter anderem die Menschenrechtsverletzungen in Libyen scharf verurteilt und der Generalversammlung empfohlen wurde, angesichts der Ereignisse in Libyen Maßnahmen entsprechend Punkt 8 der Generalversammlungsresolution 60/251 zu ergreifen – die Suspendierung der Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat.[23] Deutschland war sowohl Unterstützer als auch Co-Sponsor dieser Resolution.[24] Weiterhin hatte sich Deutschland in der EU dafür eingesetzt, dass diese das Vorgehen der Regierung Gaddafis scharf verurteilen solle (im Gegensatz zu Frankreich und Italien, die alle beteiligten Parteien auffordern wollten, die Gewalt einzustellen). So kritisierte Westerwelle am 25. Februar 2011 in einem Interview das Zögern der EU und betonte, dass Deutschland bereits zuvor zusammen mit Frankreich „glasklar“[25] Stellung bezogen hätte. Weiterhin begrüßte er die „klare Sprache“,[26] die sowohl die Afrikanische Union als auch die Arabische Liga gegenüber der libyschen Führung gefunden hatten. Westerwelle äußerte sich zum geplanten Ausschluss Libyens aus dem Menschenrechtsrat mit den Worten, dass mit der Entscheidung eine klare Botschaft abgegeben wurde, dass „jeder der auf den Menschenrechten herumtrampelt, keinen Platz im Menschenrechtsrat hat.“[27] Die Suspendierung Libyens erfolgte am 1. März.


Bedeutsam für die deutsche Haltung ist, dass sich im Zuge der Unruhen in Ägypten Außenminister Westerwelle bereits am 11. Februar 2011 an den Sicherheitsrat gewandt und diesen dazu aufgefordert hatte, angesichts der angespannten Lage im Mittleren Osten und der arabischen Welt unverzüglich peace-building Maßnahmen zu ergreifen.[28] Am 26. Februar 2011 war zu vernehmen, dass die USA unter anderem über die Einrichtung einer Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung nachdenken würden – so kam die Option einer Flugverbotszone international ins Gespräch.[29] Tags darauf wurde die Flugverbotszone in Zusammenhang mit weiteren Sanktionen gegen Gaddafi genannt –  nun erklärte auch Westerwelle, dass er dies nicht ausschließen wolle.[30] Am 28. Februar 2011 äußerte Westerwelle in einem Interview, dass er eine Flugverbotszone über Libyen „unverändert nicht ausschließ[e]“, fügte jedoch hinzu, dass eine Flugverbotszone dementsprechend auch durchgeführt werden müsse. Das Vorgehen des Westens müsse daher „energisch, aber auch klug“ erfolgen.[31] Entgegen der Position der USA hatte Hillary Clinton am 28. Februar noch vor einer Flugverbotszone gewarnt, da sich die hauptsächliche Gewalt in Libyen am Boden abspiele, was die Effektivität einer Flugverbotszone vermindere.[32]

3. Ausgangspunkt der Resolution 1970
In Resolution 1970, die am 26. Februar 2011 einstimmig verabschiedet wurde, verurteilte der Sicherheitsrat die Entwicklungen in Libyen und forderte die libysche Führung dazu auf, die Wahrung der Menschenrechte zu gewährleisten und die Unversehrtheit der eigenen Bevölkerung sicher zu stellen.[33] Die Resolution beinhaltete auch die Überweisung der Situation in Libyen an den Internationalen Strafgerichtshof.[34] Deutschland unterstützte Resolution 1970, die in der Präambel klare Bezüge auf die Responsibility to Protect nahm: „Recalling the Libyans‘ authorities responsibility to protect its population“.[35] Auch UN-Botschafter Wittig nahm in seiner Erklärung vor dem Sicherheitsrat indirekt Bezug auf die Begrifflichkeiten der Responsibility to Protect (R2P): „The international community will not tolerate the gross and systematic violation of human rights by the Libyan regime. (…) This is a clear warning to those who perpetrate systematic attacks against their civilian population that they will be held accountable. It should be clear to everyone that the Council will continue to follow the situation in Libya very closely”.[36] Diplomaten, die an den Aushandlungsprozessen um Resolution 1970 beteiligt waren, werden zitiert mit den Worten, dass die deutsche Unterstützung der Resolution sehr nachdrücklich und deutlich gewesen war.[37]


In Libyen gewann die Opposition im Land mehr an Boden und startete einen einwöchigen Vormarsch. Am 3. März wurde wegen der anhaltenden Kämpfe die deutsche Botschaft in Tripolis geschlossen.[38] Am 5. März bildete sich in Benghasi der Nationale Rat (oder Übergangsrat), der sich als einzig legitime Vertretung des libyschen Volkes sah, und dies in einem Brief an die Generalversammlung unterstrich.[39] Zeitgleich äußerte sich NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, dass die NATO nicht ohne Mandatierung des Sicherheitsrates in Libyen intervenieren würde.[40] Am 7. März wurde bekannt, dass die britische und die französische Ständige Vertretung bei den Vereinten Nationen an einem ersten Resolutionsentwurf arbeiteten, der eine Flugverbotszone enthielt.[41] Am gleichen Tag forderte der Golf-Kooperationsrat als erste Regionalorganisation, dass der Sicherheitsrat alle nötigen Maßnahmen ergreifen solle, um libysche Zivilisten zu schützen – inklusive der möglichen Etablierung einer Flugverbotszone.[42] In einem Telefonat mit David Cameron diskutierte Barack Obama am 8. März mögliche Wege, die Gewalt in Libyen zu beenden. Beide kamen darin überein, weitere Planungen, auch unter Einbeziehung der NATO zu verfolgen „on the full spectrum of possible responses, including surveillance, humanitarian assistance, enforcement of the arms embargo, and a no fly zone”.[43] Am gleichen Tag besuchte ein Vertreter des Übergangsrates das Europäische Parlament und forderte dort die Anerkennung des Rates, sowie eine Flugverbotszone über Libyen. Am selben Tag schloss sich die Organisation der Islamischen Konferenz den Befürwortern einer Flugverbotszone an, bestand aber darauf, dass dies keine Kampfhandlungen mit ausländischen Bodentruppen einschließe. Die Organisation forderte den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dazu auf, sich der Situation anzunehmen.[44] In Libyen wurde zeitgleich der erfolgte Vormarsch der Rebellen von regierungstreuen Gruppen zurückgedrängt. Im Folgenden konzentriert sich die Betrachtung auf die Tage des 9. März bis zur Verabschiedung der Resolution 1973 am 17. März. Die zeitliche Einteilung wurde gewählt, um einen besonderen Fokus auf die Zuspitzung der Ereignisse und das Krisenmanagement der deutschen Außenpolitik legen zu können.


Mit der Resolution 1970 wurde bereits ein starkes Signal der internationalen Gemeinschaft gesendet. Nun kam es darauf an, ob die Resolution den erwünschten Erfolg haben werde, oder ob weitergehende Maßnahmen zu ergreifen waren. Nachdem die Situation in Libyen an den Internationalen Strafgerichtshof überwiesen wurde, wäre eine Intervention auf Basis der internationalen Schutzverantwortung – sollte das Gaddafi-Regime sich weiterhin nicht willens zeigen, diese gegenüber seiner Bevölkerung wahr zu nehmen – ein möglicher Schritt gewesen. Dabei stellten sich mehrere Probleme: Könnte man Gaddafi mit Sanktionen Einhalt gebieten oder war eine militärische Intervention unausweichlich? Wie ist die Position der betroffenen Regionalorganisationen? Welche Möglichkeiten gab es, der Situation Herr zu werden, sollten sowohl die Sanktionen aus 1970 als auch die Überweisung an den Internationalen Strafgerichtshof nicht den gewünschten Erfolg haben? Deutschland plädierte nach wie vor für eine Verschärfung und Ausweitung von Sanktionen und zeigte sich skeptisch gegenüber militärischen Maßnahmen. Frankreich und Großbritannien argumentierten von Beginn an auch für die Möglichkeit militärischer Aktionen, wobei besonders Frankreich als Fürsprecherin einer Intervention hervorstach. Die USA befanden sich noch auf Seiten der Skeptiker, da sie die unkalkulierbaren Kosten einer Intervention fürchteten. Schließlich standen die Bedingungen einer militärischen Intervention im Raum: So ging es etwa um die Frage, ob mit oder außerhalb der NATO gehandelt werden solle und wie und in welchem Grad Regionalorganisationen einzubinden seien.

4. Die acht entscheidenden Tage
Um ein möglichst breites Bild der Ereignisse im Vorfeld der Verabschiedung von Resolution 1973 zu geben, wurde auf bereits bestehende Studien zum Thema zurückgegriffen, diese wurden verbunden mit einem detaillierten „process tracing“ anhand von Zeitungsartikeln, Abschlussdokumenten internationaler Konferenzen und Autobiographien beteiligter Personen.[45]

Mittwoch, 9. März 2011
In Libyen verschärfte sich die Lage weiter. Gaddafis Truppen setzten ihre Offensive gegen Regierungsgegner fort, es kursierten erneut Berichte über Luftschläge durch das Regime. Gaddafi äußerte sich in einem türkischen Fernsehsender, dass sein Volk zu den Waffen greifen werde, sollte eine Flugverbotszone verhängt werden.[46]

Bereits am Tag zuvor hatte die NATO die Luftraumüberwachung über dem Mittelmeer ausgedehnt. Die Allianz arbeitete an Plänen für ein mögliches militärisches Eingreifen, um diese beim NATO-Verteidigungsministertreffen vorlegen zu können.[47]

In den USA diskutierte das National Security Team Barack Obamas die Lage. Das Pentagon informierte die Anwesenden darüber, dass eine Flugverbotszone nicht ausreichen würde, um das militärische Kräfteverhältnis zugunsten der Rebellen zu verschieben.[48]

Auf deutscher Seite beratschlagten die Kanzlerin, der Verteidigungs- und der Außenminister das weitere Vorgehen. Während immer mehr Stimmen für eine militärische Intervention laut wurden, warb die Bundesregierung weiter für die Verschärfungen der Sanktionen.[49]Dies bedeutete eine Verlangsamung bzw. Verstetigung der außergewöhnlich schnellen Reaktion durch Resolution 1970. Wurde Deutschland im Rahmen der Verhandlungen um die erste Libyen-Resolution von Diplomaten noch als fordernd und stark unterstützend beschrieben, so entfernt sich die Bundesregierung von dem zuvor eingeschlagenen Kurs.[50] In einem Interview am 9. März sagte Westerwelle, dass „ein Diktator, der einen Bürgerkrieg gegen das eigene Volk führt“ am Ende sei und gehen müsse. Westerwelle betonte gleichzeitig: „wir müssen vor allen Dingen vermeiden, dass wir am Ende auf eine schiefe Bahn geraten – und Partei in einem Bürgerkrieg werden. Alles, was darüber hinausgeht, braucht ein UN-Mandat – in Abstimmung mit der Arabischen Liga.“[51] Auch in einem Interview mit dem Straubinger Tagblatt unterstrich Westerwelle, dass Gaddafi „Krieg gegen sein eigenes Volk führt (…). Daher kann es seitens der internationalen Staatengemeinschaft auch nur eine Ansage geben: Der Diktator muss gehen. Wir leisten unseren Beitrag durch gezielte Sanktionen, indem das Vermögen eingefroren wird und Reiseverbote verhängt werden. […] [W]ir müssen darüber hinaus noch weitere Sanktionen beschließen, um die Geldflüsse nach Libyen zu stoppen, damit sie nicht in die Hände des Diktators oder seiner Familie gelangen können, die dann wiederum Gewalttaten gegen das eigene Volk begehen“.[52] Angesprochen auf die mögliche Option einer Flugverbotszone äußerte Westerwelle: „Das ist eine Option, die man auch ernsthaft prüfen muss – das hab' ich längst gesagt. Aber eine Flugverbotszone ist leicht auszusprechen und sehr schwer durchzusetzen. In Libyen gibt es zum Beispiel eine Luftabwehr, die man zunächst neutralisieren müsste. Da gilt es, mit Bedacht abzuwägen. Insbesondere ist es zwingend erforderlich, dass die Vereinten Nationen alle Maßnahmen jenseits der gezielten Sanktionen mandatieren und dass Einvernehmen mit der Arabischen Liga, also den übrigen arabischen Nationen, besteht. Denn wir wollen nicht auf eine schiefe Ebene geraten, an deren Ende dann ein militärischer Konflikt unter unserer Beteiligung steht“.[53]Westerwelle äußerte sich dementsprechend noch nicht ablehnend einer Flugverbotszone gegenüber, betonte aber weiterhin die notwendige Einbindung der Arabischen Liga und die Mandatierung durch den Sicherheitsrat.

Donnerstag, 10. März 2011
In Libyen setzten Gaddafi-treue Gruppen ihre Angriffe auf Regierungsgegner fort. Es wurden Luftangriffe gegen die Rebellen geflogen und Gaddafis Sohn, Saif al-Islam äußerte der Nachrichtenagentur Reuters gegenüber, ein umfassender Angriff werde vorbereitet. „Die Zeit ist jetzt abgelaufen“, sagte er „jetzt wird gehandelt“.[54] Die Gaddafi-Truppen gingen angeblich in einer Großoffensive mit Panzern und Artillerie gegen die Rebellen vor. Rebellen bestätigten, dass einige ihrer Stellungen an den Küsten von Kanonenbooten aus beschossen worden seien. Laut Augenzeugen waren Gaddafi-Truppen im Begriff die Stadt Ras Lanuf einzunehmen. Das internationale Rote Kreuz gab an, dass die Zahl der zivilen Opfer zunehme.[55]

Auf europäischer Ebene wurden Verschiebungen sichtbar: Frankreich erkannte völlig überraschend für Deutschland den am 5. März 2011 gegründeten lybischen Nationalen Rat an.[56] Ein französischer Diplomat sprach davon, dass Frankreich versuchte, mit dieser „Elektroschock-Diplomatie“ andere europäische Staaten zu einer Positionierung in der Libyen-Frage zu bewegen.[57] Augenscheinlich hatte der in Tunesien geborene französische Intellektuelle Bernard-Henri Lévy[58] Einfluss auf Sarkozy genommen. Lévy war am 4. März nach Libyen gereist, um über die Situation dort zu berichten und hatte eigenen Angaben zufolge die Verbindung zwischen dem Nationalen Rat und Sarkozy hergestellt.[59] Berichten zufolge hatte Sarkozy seinen Außenminister Alain Juppé nicht über die geplante Anerkennung des Übergangsrates informiert – ein Umstand, der zu Spannungen innerhalb der französischen Führung führte.[60] Juppé hatte erst am 27. Februar 2011 sein Amt übernommen und drohte angesichts von Sarkozys Alleingang mit seinem Rücktritt, sollte er weiterhin übergangen werden.[61]

Es ist zu vermuten, dass Sarkozy aufgrund seines Zögerns im Falle Tunesiens und Ägyptens und dem vorangegangenen Skandal um die am 27. Februar 2011 entlassene Außenministerin Michèle Alliot-Marie versuchte, durch ein entschlossenes Auftreten wieder Boden auf internationaler Ebene gut zu machen und insbesondere Frankreichs Reputation innerhalb der arabischen Welt wieder zurückerlangen wollte.[62] Frankreich machte deutlich, dass es auch zu militärischer Hilfe bereit sei, um die Bevölkerung Libyens vor Übergriffen Gaddafis zu schützen.[63] Das französische Außenministerium erklärte, Sarkozy wolle der EU Luftangriffe auf Libyen vorschlagen; Le Monde meldete, Frankreich arbeite weiterhin mit Großbritannien an einem ersten Resolutionsentwurf für eine Flugverbotszone.[64]

Deutschland wurde im Vorfeld nicht über die Anerkennung des libyschen Übergangsrates durch Frankreich informiert – ein Umstand, der durchaus als Irritation im Verhältnis der beiden Partner gewertet werden kann. Das deutsche Bemühen um Verzögerung bzw. Verstetigung der Politik im Nachgang zu Resolution 1970 trifft unverkennbar auf eine französische Beschleunigung. Nach wie vor bestand dabei innerhalb der Europäischen Union Uneinigkeit, die in absehbarer Zeit durch den französischen Alleingang kaum aufgelöst werden würde. Auf die Anerkennung des libyschen Übergangsrates angesprochen äußerte Westerwelle, dass man erst über EU- und UN-Sondergesandte prüfen wolle, ob der Übergangsrat als legitime Vertretung der Bevölkerung angesehen werden könne, bevor man über die Möglichkeit einer Anerkennung nachdenke.[65] Im Zuge weiterer Wirtschaftssanktionen ließ die deutsche Regierung libysche Konten in Deutschland einfrieren.[66] Deutschland sah nach wie vor in Sanktionen das Mittel der Wahl; Westerwelle bezeichnete die Etablierung einer Flugverbotszone weiter als ernste militärische Maßnahme, und erklärte, dass die Bundesregierung dem nach wie vor zurückhaltend gegenüberstehe. Er verwies nochmals auf die notwendige Einbindung arabischer Staaten in etwaige Interventionen in der Region.[67]

Am 10. März 2011 begann die zweitägige Konferenz der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel: dort konnte man sich nicht auf die abschließende Forderung nach einer Flugverbotszone einigen. Die USA und Deutschland blieben skeptisch, ob die Einrichtung einer Flugverbotszone die gewünschten Ergebnisse liefern werde. Verteidigungsminister Thomas de Maizière erklärte, dass „die Situation in Libyen […] nicht die Grundlage für eine irgendwie geartete militärische Intervention durch die NATO“ sei.[68] Die Frage müsse in Libyen und der Region gelöst werden, weiterhin seien ein Mandat des Sicherheitsrates und die Einbeziehung der Arabischen Liga unabdingbar. Großbritannien und Frankreich befürworteten die Einrichtung einer Flugverbotszone deutlich; Einigkeit bestand dahingehend, dass diese einen Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen benötige sowie die Unterstützung der arabischen Staaten in der Region.[69] Ranghohe Mitarbeiter des Pentagons wiesen darauf hin, dass eine Flugverbotszone ohne die militärische Führung der USA nicht durchführbar sei.[70] Im Verlauf des Gipfels erklärte der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen unter vier Augen, dass die USA die Einrichtung einer Flugverbotszone unterstützen würden, dies aber zwingend mit dem Mandat einer Sicherheitsratsresolution sowie regionaler Beteiligung verbunden sein und unter der Schirmherrschaft der NATO geschehen müsse.[71] Im gleichen Zusammenhang äußerte Rasmussen seine Besorgnis Gates gegenüber, dass Deutschland einem NATO-Einsatz in Libyen nicht zustimmen werde, da es die Europäische Union in einer Führungsrolle bei der Konfliktbewältigung in Libyen sehen wolle.[72]

Am Abend des 10. März 2011 richteten der britische Premier David Cameron und der französische Präsident Nicolas Sarkozy ein gemeinsames Schreiben an den Präsidenten des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, in dem sie wirksame Maßnahmen zur Unterbindung der Gewalt des Gaddafi-Regimes gegen die Zivilbevölkerung forderten. Als Handlungsanleitung stellten sie eine Liste mit sieben Punkten auf, in der sie unter anderem forderten, dass Gaddafi abdanken und der Nationale Übergangsrat als legitime Vertretung des libyschen Volkes anerkannt werden solle. In Bezug auf eine Flugverbotszone oder ähnliche Maßnahmen zum Schutze der Zivilbevölkerung wurde festgehalten, dass beide dies ausdrücklich begrüßen und unterstützten. Cameron und Sarkozy wollten auf diesem Weg für ihren gemeinsamen Resolutionsentwurf werben, der dem Sicherheitsrat vorgelegt werden sollte.[73]

Die Position der USA blieb skeptisch. Außenministerin Hillary Clinton sprach vor dem Kongress davon, dass die USA nicht unilateral losschlagen sollten. Ähnlich wie Gates argumentierte sie: „We had a no-fly-zone over Iraq. It did not prevent Saddam Hussein from slaughtering people on the ground and it did not get him out of office“.[74]

Auch der Golf-Kooperationsrat tagte und sprach der amtierenden libyschen Führung aufgrund der jüngsten Ereignisse die Legitimität ab, für das libysche Volk zu sprechen. Der Rat forderte dazu auf, Kontakte zum Übergangsrat zu suchen, der Außenminister Katars wurde in dieser Beziehung noch deutlicher und fordert Gaddafi öffentlich zum Rücktritt auf.[75]

Die Afrikanische Union (AU) traf sich im Peace and Security Council auf Ebene der Staatschefs; man kam dabei überein, dass eine diplomatische Mission, bestehend aus fünf Staatsführern der AU, nach Libyen geschickt werden sollte, um zwischen Gaddafi und den Rebellen zu vermitteln.[76] Die AU zeigte sich zwar besorgt angesichts der Situation im Lande, betonte aber, dass die „Einheit und Souveränität“ Libyens unangetastet bleiben solle.[77] Libyen als Mitglied der AU war bei dieser Sitzung anwesend.[78] Ebenso deutlich lehnte die AU jegliche militärische Intervention durch ausländische Streitkräfte ab.[79]
 
Freitag, 11. März 2011
In Libyen wurden die Oppositionellen von Gaddafis Truppen weiter in Richtung Benghasi zurückgedrängt. Laut Berichten zogen sich die Rebellen aus der Stadt Ras Lanuf zurück und auch die Stadt Zawija sei in der Hand regimetreuer Truppen. Gaddafis Sohn, Saif al Islam, kündigte eine Großoffensive gegen die Rebellen an. Als Reaktion auf Frankreichs Anerkennung des Nationalen Rates setzte Libyen nun seine diplomatischen Beziehungen zu Frankreich aus.[80]

Am 11. März 2011 fanden gleichzeitig der außerordentliche Europäische Rat und Eurozonen-Sondergipfel, sowie ein informelles Treffen der EU-Außenminister bei Budapest statt. Allgemeiner Konsens bestand in der Forderung nach dem Rücktritt Gaddafis und einem Ende der Gewalt.[81] Im Abschlussdokument des Sondergipfels zu Libyen fand sich jedoch kein Hinweis auf eine Flugverbotszone oder sonstiges militärisches Eingreifen. Dies wurde von Deutschland und anderen Staaten gegen die Opposition von Frankreich und Großbritannien durchgesetzt.[82] Zum weiteren Vorgehen heißt es in der deutschsprachigen Presseerklärung von Herman van Rompuy: „Zum Schutz der Zivilbevölkerung werden die Mitgliedstaaten alle notwendigen Optionen prüfen, sofern nachweislich eine Notwendigkeit besteht, eine eindeutige Rechtsgrundlage vorhanden und Unterstützung aus der Region gegeben ist. Wir werden mit den Vereinten Nationen, der Arabischen Liga, der Afrikanischen Union und unseren internationalen Partnern zusammenarbeiten, um auf die Krise zu reagieren. Wir fordern, dass rasch ein Gipfeltreffen der Arabischen Liga, der Afrikanischen Union und der Europäischen Union abgehalten wird.“[83] Frankreich und Großbritannien wollten nicht ausschließen, dass sie unter Umständen nicht auch eine Intervention der Arabischen Liga, ohne UN-Mandat, unterstützen würden. Einig werden konnte man sich dahingehend, dass der Nationale Übergangsrat als Gesprächspartner anerkannt wurde – auf Deutschlands Bestreben hin wurde dieser jedoch nicht als alleiniger Partner betrachtet. Gleichzeitig wurde Deutschlands und Großbritanniens Bestreben nachgekommen, Gaddafi international zu isolieren: Man einigte sich auf dem Gipfeltreffen darauf, Gaddafi nicht mehr als legitimen Vertreter der libyschen Volkes anzuerkennen.[84]

Bundeskanzlerin Merkel erklärte auf dem Sondergipfel, dass sie militärisches Eingreifen nicht als notwendig erachte.[85] Darüber hinaus zeigte sie sich verärgert über die Uneinigkeit der europäischen Staaten, die ihrer Meinung nach Gaddafi in die Hände spiele.[86] Grund ihrer Kritik war das Verhalten Portugals und Griechenlands, die Gespräche mit dem libyschen Regime führten, obwohl die EU Gaddafi öffentlich zum Rücktritt aufgeforderte hatte.[87] Westerwelle äußerte sich später Majid Sattar zufolge, dass er in mehreren persönlichen Gesprächen mit der Kanzlerin an diesem Tag zu dem Schluss gekommen sei, diese sei noch zögerlicher als er selbst gewesen.[88] Bei einer Wahlveranstaltung betonte die Kanzlerin erneut, dass eine Flugverbotszone eine militärische Aktion sei vor der man erst einmal die Sanktionsmöglichkeiten gegen das Gaddafi-Regime ausschöpfen sollte.[89] Derweil suchte Deutschland erste vorsichtige Kontakte zur Oppositionsbewegung in Libyen. Das Auswärtige Amt ließ verlautbaren, dass Andreas Michaelis, der Nahost-Beauftragte des Auswärtigen Amtes, mit Ali Asis Al-Eisawi, dem Außenbeauftragten des Nationalen Übergansrates gesprochen habe. Der libyschen Opposition war das deutsche Verhalten ihr gegenüber dennoch zu zögerlich und wurde dort scharf kritisiert.[90]

Samstag, 12. März 2011
Während in Libyen die Rebellen weiter zurück gedrängt wurden, tagte die Arabische Liga zur Situation im Land.[91] Im Vorfeld der Sitzung wollten sowohl libysche Rebellen als auch Vertreter des Gaddafi-Regimes von der Liga gehört werden. Unter den Mitgliedsstaaten der Liga existierte einerseits die Tendenz, eine Flugverbotszone zu befürworten, um Sympathien in der eigenen Bevölkerung zu sammeln, die angesichts der Gewalttaten des Gaddafi-Regimes ein Eingreifen forderte. Andererseits wurden Bedenken laut, ob eine Unterstützung der libyschen Rebellion im Zweifelsfall nicht doch mehr schade als nütze. Im Vergleich zum einhelligen Statement des Golf-Kooperationsrates war die das Meinungsbild in der Arabischen Liga recht heterogen: zu Beginn der Sitzung war noch nicht abzusehen, in welche Richtung die abschließende Erklärung gehen würde.[92] Im Verlauf der Debatte kritisierten Vertreter Syriens und Algeriens, dass eine Intervention in Libyen möglicherweise die gesamte Region destabilisieren könne.[93] Im Abschluss-Dokument der Konferenz beschloss die Liga jedoch unter Bezugnahme auf ihre vorhergehende Libyen-Erklärung vom 2. März “1. To call on the Security Council to bear its responsibilities towards the deteriorating situation in Libya, and to take the necessary measures to impose immediately a no-fly zone on Libyan militaryaviation, […] while respecting the sovereignty and territorial integrity of neighboring States, 2. To cooperate and communicate with the Transitional National Council of Libya and to provide the Libyan people with urgent and continuing support as well as the necessary protection from the serious violations and grave crimes committed by the Libyan authorities, which have consequently lost their legitimacy, 3. To reiterate the call on Member States, […], international organizations […] to provide support and urgent humanitarian assistance to the Libyan people during this critical period of their history through various channels […]”. Abschließend erklärte die Liga ihre Absicht, mit den Vereinten Nationen, der Afrikanischen Union, der Organisation der Islamischen Konferenz und der Europäischen Union in Fragen der Situation in Libyen weiter zusammen zu arbeiten.[94] Der Generalsekretär der Liga, Amr Mussa, sprach sich dafür aus, dass bei der Etablierung einer Flugverbotszone die UN, die Arabische Liga, die Afrikanische Union und EU beteiligt werden sollen. Aufgrund der Skepsis einiger Mitgliedsstaaten (namentlich Syrien, Algerien, Jemen und der Sudan)[95] wurde betont, dass die Einrichtung einer Flugverbotszone keinesfalls eine andauernde, ausländische Militärpräsenz bedeuten solle.[96]

Hillary Clinton betonte im Rückblick die bedeutsame Stellung der Arabischen Liga, da im Vorfeld die Errichtung einer Flugverbotszone – wie auch von Westerwelle – an die Zustimmung der Staaten der Region geknüpft worden war: „If the Arabs were willing to take the lead, perhaps an international intervention was not impossible after all“.[97] Sie erklärte weiter, „the turning point was really the Arab League statement […] that was an extraordinary statement in which the Arab League asked for Security Council action against one of its own members”.[98] Als Reaktion auf die Verlautbarung der Arabischen Liga schloss sich der Golf-Kooperationsrat deren Forderungen an.[99] Der Ball lag damit beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die ständigen Mitglieder China und Russland äußerten dort weiter Bedenken, ob eine Flugverbotszone zum gewünschten Erfolg führen würde.[100] Im Nachklang der Resolution der Arabischen Liga trafen sich jedoch britische und französische Vertreter mit Angehörigen der libanesischen Vertretung in New York (der Libanon zählte zu den nichtständigen Mitgliedern des Rates), um einen Resolutionsentwurf für die Einrichtung einer Flugverbotszone auszuarbeiten.[101]

Außenminister Westerwelle rief erneut zur Zurückhaltung bei Überlegungen für eventuelle militärische Eingriffe auf und forderte stattdessen Gespräche mit den Nachbarn Libyens. Es sei wichtig, den Eindruck zu vermeiden, dass es um einen "christlichen Kreuzzug gegen Menschen muslimischen Glaubens" gehe.[102] In einem Interview mit der Magdeburger Volksstimme am 12. März äußerte er weiter, dass eine Flugverbotszone eine „Option“ sei; allerdings sei die Bundesregierung zurückhaltend. Wieder betonte Westerwelle, dass eine Flugverbotszone zwingend das Mandat der Vereinten Nationen brauche, sowie nicht nur die Unterstützung anderer Staaten in der Region, sondern auch deren aktive Beteiligung.[103]

Montag, 14. März 2011
Die Kampfhandlungen in Libyen setzten sich fort. Kampfflugzeuge des Regimes griffen die ostlibysche Stadt Adschdabja an; Regimegegner berichteten, dass sie die Stadt Al Brega wieder unter Kontrolle gebracht hätten, andauernde Kämpfe herrschten in Misrata, die Stadt Ras Lanuf soll ebenfalls von Regierungstruppen zurückerobert worden sein.[104] Am 13. März war bereits eine EU-Delegation nach Benghasi entsandt worden, um „Informationen zu sammeln, und die Lage zu erkunden, um die fortlaufende vorsichtige Planung einer Reaktion auf die libysche Krise zu unterstützen“, so die Außenbeauftragte Ashton.[105]

Derweil erörterten die Sicherheitsratsmitglieder in New York in informeller Runde die Möglichkeiten einer Flugverbotszone über Libyen. Der Libanon hatte unter Verweis auf die Positionierung der Arabischen Liga um dieses Treffen gebeten, um weitere Schritte besprechen zu können.[106] Bereits vor Beginn der Sitzung äußerte sich der britische Außenminister William Hague, dass der Zeitpunkt gekommen sei, eine Flugverbotszone durchzusetzen und dass dies notfalls auch ohne Resolution des Sicherheitsrates durchgesetzt werden könne. Im Verlauf der Sitzung beantragte der Libanon die Sperrung des Luftraums über Libyen, damit keine weiteren Zivilisten in Gefahr gerieten. Die Sicherheitsratsmitglieder blieben in der Sache weiter gespalten, der Libanon (als Vertreter der arabischen Staaten im Sicherheitsrat)[107]arbeitete dennoch weiterhin mit Großbritannien und Frankreich an einem Resolutionsentwurf.[108]

Russlands Botschafter bei den Vereinten Nationen, Witali Iwanowitsch Tschurkin, sagte nach der Sitzung, es gebe „grundlegende Fragen“ bei der Umsetzung zu klären, etwa wer eine Flugverbotszone militärisch durchsetzen könne.[109] Zeitgleich meldete die staatliche libysche Nachrichtenagentur Jana, Gaddafi habe den Botschaftern von China, Russland und Indien größere Beteiligungen am libyschen Ölvorkommen angeboten, vermutlich in der Hoffnung, sie werden als Gegenleistung ihr Veto bzw. ihre Stimme gegen eine Sicherheitsratsresolution einsetzen, die die Einrichtung einer Flugverbotszone beabsichtigt.[110] Den größten Unsicherheitsfaktor bei den Beratungen stellte die USA dar, da ihre Position weiter schwer einzuschätzen war. Im Sicherheitsrat galt es jedoch als ausgemacht, dass sobald die USA eine klare Position beziehen würden, eine Einigung im Sicherheitsrat zu erzielen sei.[111]

Derweil tagten in Paris die Außenminister der G8-Staaten. Dort wurden die Differenzen zwischen der deutschen und der französischen Haltung besonders deutlich.[112] Westerwelle und Hillary Clinton waren auf der Konferenz noch auf einer Linie – durchaus gemeinsam mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow, der den britischen und den französischen Außenminister mit kritischen Fragen nach Einzelheiten der Flugverbotszone und ihrer militärischer Machbarkeit konfrontierte.[113] Im Vorfeld der Außenministerkonferenz hatte sich Hillary Clinton allerdings mit dem Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate getroffen, um in Erfahrung zu bringen, ob diese bereit seien, sich an der Etablierung einer Flugverbotszone zu beteiligen, was dieser prinzipiell bestätigte.[114] Abseits solcher Anfragen verfestigte sich die Position Deutschlands als offener Gegner einer Flugverbotszone in der öffentlichen Wahrnehmung.[115] Im Zuge der Pressekonferenz nach dem Treffen der Außenminister sprach Juppé davon, dass ein breiter Konsens für eine Flugverbotszone bestehe – Westerwelle interveniert öffentlich und korrigiert die Aussage.[116] Im Nachgang der Konferenz gingen die Differenzen zwischen Berlin und Paris so weit, dass – laut Aussage beteiligter Diplomaten – die Außenminister Frankreichs und Deutschlands einige Tage lang gar nicht mehr miteinander kommunizierten.[117]

Um 22 Uhr trafen Mahmoud Jibril, der Vertreter des Nationalen Rates und Bernard-Henri Lévy im Hotel Westin, in dem die G8-Außenminister tagten, ein. Jibril verwies die Außenminister darauf, dass sich hunderttausende Zivilisten in Benghasi in unmittelbarer Gefahr befänden und zog den Vergleich zum Genozid in Ruanda und den ethnischen Säuberungen auf dem Balkan. Er unterstrich seine Forderung nach einer internationalen Intervention in Libyen.[118]

Deutschland beharrte auf seiner Position. Westerwelle hatte vor der morgendlichen, informellen Sitzung des Sicherheitsrates erneut vor gravierenden Folgen gewarnt, die eine Flugverbotszone haben könnte und unterstrich, dass durch unüberlegtes Handeln weitere Konflikte geschürt werden könnten. Zudem sei nicht sicher, ob die Durchsetzung einer Flugverbotszone auch zum gewünschten Ergebnis führe. Auch Peter Wittig, der deutsche Botschafter bei den Vereinten Nationen, äußerte sich zurückhaltend nach der Sitzung des Sicherheitsrates; Wittig sprach sich für stärkeren Druck durch Sanktionen aus, um die Gewalt im Land einzudämmen.[119]

Dienstag, 15. März 2011
Die Situation in Libyen verschärfte sich drastisch: regimetreue Truppen standen vor Benghasi. Berichten zufolge hatten sie zwei wichtige Hafenstädte zurückerobert; die Regierungsgegner seien aus den Städten Brega und Adschdabija vertrieben worden. Der Fall dieser Städte hatte für die Truppen des Regimes nun den Weg nach Benghasi (nach wie vor die Rebellenhochburg des Landes) frei gemacht.[120] Auch Misrata stand weiterhin unter Beschuss von Regierungstruppen, ebenso eroberten diese im Westen des Landes die Stadt Zuwara von Rebellen zurück.[121] Auch die wirtschaftliche Lage des Landes verschlechterte sich weiter, laut der Internationalen Energie Agentur exportierte Libyen aufgrund der anhaltenden Kämpfe kein Öl mehr.[122]

Die deutsche Haltung zu dem andauernden Konflikt wurde unschmeichelhaft hervorgehoben, als Gaddafi Sarkozy in einem Fernsehinterview als geistesgestört bezeichnet, und gleichzeitig die Haltung Deutschlands lobte: „Die Deutschen haben uns gegenüber eine sehr gute Position eingenommen, ganz anders als viele andere wichtige Länder im Westen“; die Bundesregierung könne auch zukünftig mit Aufträgen im Zusammenhang der Erdölförderung rechnen.[123]

Am zweiten Tag der G8-Außenministerkonferenz in Paris kritisierten die Teilnehmenden Gaddafis Vorgehen, konnten sich aber noch immer nicht auf einen gemeinsamen Kurs einigen. Die Abschlusserklärung der Konferenz enthielt keinen Verweis auf die mögliche Etablierung einer Flugverbotszone, sondern appellierte an die UN, weitere Sanktionen zu erlassen. David Cameron beharrte auf dem eingeschlagenen Kurs Großbritanniens und erklärte, dass nicht nur eine Flugverbotszone zum gewünschten Erfolg führen könnte, sondern auch Waffenlieferungen an die Oppositionskräfte eine Möglichkeit wären.[124]

Am Nachmittag amerikanischer Zeit diskutierte Obama mit seinem Team die verschiedenen Implikationen einer Flugverbotszone. Hillary Clinton hatte ans Weiße Haus berichtet, dass die NATO bereit für die Operation sei und Mitglieder der Arabischen Liga willens waren, gegen Gaddafi zu kämpfen.[125] Der National Security Council blieb vorerst gespalten: Obamas Team bestand allerdings aus der gleichen Anzahl von Interventionsbefürwortern wie -gegnern,[126] sodass es auf den Präsidenten ankam. Obama entschloss sich nach Abwägung der Sachlage schlussendlich dazu, die insbesondere von Rice und Power betonten Argumente für ein aktives Vorgehen zu unterstützen.[127] Dazu gehörten u.a. die Abwendung eines Massakers bzw. einer drohenden humanitären Katastrophe, die durch die vor Benghasi stehenden Truppen Gaddafis angerichtet werden konnte.[128] Die diesbezüglichen Beweggründe waren (nicht zuletzt aufgrund der einschlägigen Vorerfahrungen und Positionierungen von Rice und Power) durchaus im Kontext einer Bezugnahme auf die Schutzverantwortung einzuordnen.[129] Darüber hinaus sah die amerikanische Regierung mit der Zustimmung zu Resolution 1973 eine Chance, einen stärkeren außenpolitischen Fokus auf Demokratisierung und Menschenrechte zu legen und die Umbruchbewegungen im Mittleren Osten zu unterstützen.[130] Es wurde klar, dass eine Resolution nicht nur eine Flugverbotszone fordern, sondern „all necessary means“ miteinschließen müsse, um den Schutz von Zivilisten zu gewährleisten.[131] Gaddafis deutliche Rhetorik, das Verhalten der Arabischen Liga und der Druck seitens Großbritannien und Frankreich in der NATO überzeugten Obama, seine Haltung zu ändern.[132] Aufgrund der veränderten Haltung der USA unterstützte Susan Rice, die Botschafterin der USA bei den Vereinten Nationen, aktiv den vom Libanon eingebrachten Resolutionsentwurf.[133] Nachdem die veränderte Haltung der USA beschlossen wurde, rief Rice den Ständigen Vertreter Frankreichs bei den Vereinten Nationen – Gérard Araud – an, und teilte diesem den Umschwung der amerikanischen Regierung mit.[134] Rice unterließ es allerdings, den deutschen Vertreter Peter Wittig ebenso zeitnah zu unterrichten. Die deutsche Regierung hatte also keine zeitnahe Information zum amerikanischen Kurswechsel. Verteidigungsminister de Mazière, der auf dem Rückweg von seinem Antrittsbesuch in Washington war, würde bei seiner Ankunft in Berlin noch den mittlerweile veralteten Sachstand übermitteln, dass seine Gesprächspartner im Pentagon einer Flugverbotszone weiterhin skeptisch gegenüber standen.[135]

Hillary Clinton traf sich derweil in Kairo mit Amr Mussa, um zu besprechen, in welchem Umfang sich die Arabischen Liga an einer Flugverbotszone beteiligen wolle. Moussa sicherte ihr zu, dass die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar willens seien, Flugzeuge und Piloten zur Durchführung einer Flugverbotszone beizusteuern; später sagte auch Jordanien zu.[136]

Am Abend des 15. März 2011 wandte sich Sarkozy mit einem Brief an alle Sicherheitsratsmitglieder und verwies auf die fortschreitenden Gräueltaten des Gaddafi-Regimes und die damit einhergehende Missachtung von Resolution 1970. Sarkozy forderte die Mitglieder des Sicherheitsrates dazu auf, sich der vom Libanon vorbereiteten und mit Frankreich und Großbritannien abgestimmte Resolution über eine Flugverbotszone anzuschließen.[137] Der Resolutionsentwurf sah die Etablierung einer Flugverbotszone vor, inklusive „all necessary means“, um Zivilisten zu schützen, und den Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewährleisten.[138] Laut dem libanesischen UN-Botschafter Nawaf Salam bereitete seine Regierung in Zusammenarbeit mit der Ständigen Vertretung Libyens den Teil der Resolution vor, der sich mit der Etablierung einer Flugverbotszone beschäftigte, während die Vertreter Frankreichs und Großbritanniens den Teil erarbeiteten, der weitere Sanktionen gegen das Gaddafi-Regime forderte. Der Resolutionsentwurf stieß auf Seiten von Indien, Russland, China und nicht zuletzt Deutschland auf Kritik, da diesen der Entwurf zu wenig detailliert war, um darüber abstimmen zu können.[139] Auf der G8-Außenministerkonferenz bekräftigte Westerwelle weiter seine Ablehnung gegenüber einem Militärschlag, wie auch die deutsche Beteiligung an einem solchen und verwendete dabei die Rede eines „Krieges“, der bevorstehen würde: „Ich will nicht, dass Deutschland dauerhaft in einen Krieg in Nordafrika hineingezogen wird“.[140] Seiner Meinung nach bestand die Möglichkeit, dass eine Militärintervention die gesamte Freiheitsbewegung in Nordafrika gefährden würde.[141]

Mittwoch, 16. März 2011
In Libyen rückten die Regierungstruppen weiter auf Benghasi vor; erneute Meldungen berichten von heftigen Gefechten. Die Führung in Tripolis äußerte, dass sie den Widerstand bald niederschlagen wollte: Saif al-Islam bekräftigte, dass „[i]n 48 Stunden alles vorbei“ sein werde. Aufgrund der sich verschärfenden Lage zog die Nichtregierungsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ ihre Mitarbeiter aus Benghasi ab.[142] Der Nationale Rat warnte davor, dass die Regierung ein Massaker anrichten könne und forderte erneut die internationale Gemeinschaft zur Einrichtung einer Flugverbotszone auf.[143] Hillary Clinton äußerte sich in einem Fernsehinterview, Gaddafi wolle „die Uhr zurückdrehen und so viele seiner Landsleute töten wie möglich“.[144]

Um 13 Uhr Ortszeit begann in Berlin die Sitzung des Bundestages, in der Außenminister Westerwelle eine Regierungserklärung zur Lage in Libyen abgab. Westerwelle lehnte eine Flugverbotszone nach wie vor ab und bekräftigt weiter die Notwendigkeit, den Druck durch Sanktionen zu erhöhen.[145] Er äußerte sich wie folgt: „In Libyen führt ein Diktator Krieg gegen das eigene Volk. […] Mit seinen Taten steht Oberst Gaddafi außerhalb der Völkergemeinschaft. Er hat jede Legitimation verwirkt. An dieser frühzeitig eingenommenen eindeutigen und entschiedenen Haltung der Bundesregierung ändern auch vergiftete Freundlichkeiten des Diktators nichts“[146]. Dennoch fuhr er fort: „Aber die vermeintlich einfache Lösung einer Flugverbotszone wirft mehr Fragen und Probleme auf, als sie zu lösen verspricht. Die Flugverbotszone – darüber kann auch das Wort nicht hinwegtäuschen – ist eine militärische Intervention, bei der nicht einmal klar ist, dass sie in einem Land wie Libyen wirkungsvoll sein kann. Ich darf darauf aufmerksam machen, dass Libyen ein Land ist, das etwa viermal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland.“[147] Westerwelle schlussfolgerte: „Die Bundesregierung betrachtet deshalb ein militärisches Eingreifen in Form einer Flugverbotszone mit großer Skepsis. Wir wollen und dürfen nicht Kriegspartei in einem Bürgerkrieg in Nordafrika werden. Wir wollen nicht auf eine schiefe Ebene geraten, an deren Ende dann deutsche Soldaten Teil eines Krieges in Libyen sind.“ An dieser Stell ertönte Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der LINKEN – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE] rief: „Da hat er recht! Das muss Ihnen nicht peinlich sein!“.[148] Einige Politiker von CDU, SPD und Grünen formulierten im Bundestag unter dem Verweis, dass es sich um ihre persönliche Meinung handele, Kritik an der Haltung Westerwelles, der sich jeglichen Entscheidungsspielraum verspielt habe.[149]

Mittwochmorgens US-amerikanischer Zeit hatte Susan Rice nun auch Peter Wittig per Telefon von der veränderten Haltung der amerikanischen Regierung informiert. Dieser kontaktierte umgehend die Bundesregierung, was dafür sorgte, dass diese – aufgrund der bestehenden, sechs Stunden Zeitverschiebung – am Nachmittag deutscher Zeit vom Sinneswandel der Amerikaner erfuhr.[150] Aufgrund der Zeitverschiebung hatte Westerwelle also noch keine Kenntnis von der gewandelten Position der USA, als er seine Regierungserklärung im Bundestag abgab.[151]

Am Nachmittag amerikanischer Zeit wurde der Resolutionsentwurf im Sicherheitsrat in New York diskutiert, den Frankreich am Morgen eingereicht hatte.[152] In diesen Resolutionsentwurf waren in der Nacht bereits die Änderungen eingearbeitet worden, die die USA gefordert hatten.[153] Die USA setzten sich dafür ein, dass der Resolutionsentwurf sprachlich deutlich über eine Flugverbotszone hinausging, und weitere militärische Maßnahmen zum Schutze der Zivilbevölkerung einschließen sollte. Weiterhin wollten die USA erreichen, dass in der Resolution die arabische Führungsrolle – sowohl politisch als auch militärisch – herausgestellt werde.[154] Russland hingegen setzte sich für eine alternative Resolution ein, die einen Waffenstillstand in Libyen anstelle einer Flugverbotszone zum Inhalt hatte.[155] Alle Beteiligten standen unter großem Druck, besonders aufgrund der bestehenden Zeitverschiebung von sechs Stunden verkomplizierte sich die Situation für die deutsche Bundesregierung zusätzlich. Hillary Clinton gab am Abend amerikanischer Zeit zu verstehen, dass die USA darauf drängen werde, dass die Abstimmung des Sicherheitsrates bis zum Abend des folgenden Donnerstags erfolgen werde.[156]

Donnerstag, 17. März 2011
Die libysche Luftwaffe bombierte den Flughafen in Benghasi und Gaddafi drohte in einer Radioansprache, er werde die Stadt noch in der Nacht angreifen und einnehmen lassen, und es werde „keine Gnade“ und kein Erbarmen geben.[157] Hinzukommend äußerte sich Gaddafi in einem portugiesischen Fernsehsender, er werde allen, die Libyen angreifen wollen, „das Leben zur Hölle machen“.[158] Er werde seine Truppen „Haus für Haus“ durchkämmen lassen; es würde „heute Nacht enden“ und seine Streitkräfte würden die Rebellen überall finden.[159]

Ursprünglich war in Berlin der Besuch des französischen Außenministers Juppé geplant, dieser sagte jedoch kurzfristig ab und flog nach New York, um im Sicherheitsrat persönlich an den Verhandlungen um Resolution 1973 teilzunehmen.[160] Frankreich war nach wie vor unsicher, ob die Resolution Zustimmung im Sicherheitsrat finden werde – auf Arbeitsebene wurden die Mitarbeiter der deutschen Botschaft von Mitarbeitern der französischen Botschaft bedrängt, doch noch zu einer Unterstützung der Resolution umzuschwenken.[161]

Hillary Clinton telefonierte am selben Tag mit Russlands Außenminister Lawrow.[162] Moskau hatte sich noch tags zuvor negativ gegenüber dem existierenden Resolutionsentwurf (der eine Flugverbotszone beinhaltete) geäußert und einen alternativen Resolutionsentwurf eingebracht (der die Etablierung eines Waffenstillstandes vorschlug).[163] Hillary Clinton versuchte, Lawrow davon zu überzeugen, dass die Situation nicht mit Afghanistan oder dem Irak vergleichbar sei und versicherte ihm, dass die Resolution auch die von Russland befürwortete Lösung eines Waffenstillstands einschließen werde. Lawrow erklärte, dass Russland der Resolution nicht zustimmen könne, versicherte aber, dass sein Land kein Veto einlegen und somit die Resolution ermöglicht würde.[164] Hillary Clinton sprach mit auch mit dem portugiesischen Außenminister Luis Amado und erläuterte, dass die Resolution keinen Krieg beginnen solle, sondern als „wake-up call“[165] für Gaddafi diene, damit dieser daran gehindert werde, weiterhin Verbrechen an den Bürgern seines Landes zu begehen. Amado ließ sich von Hillary Clinton überzeugen und versicherte ihr, dass Portugal mit „Ja“ stimmen werde.[166] Gleichzeitig telefonierte Obama mit Südafrikas Präsident Jacob Zuma und versuchte auch diesen zur Zustimmung zur Resolution zu bewegen, während Susan Rice auf Botschafterebene in New York Lobbyarbeit für die Resolution betrieb.

Am Morgen deutscher Zeit äußerte sich Außenminister Westerwelle in einem Telefoninterview mit dem Deutschlandfunk nochmals zur Flugverbotszone und lehnte diese als vermeintlich einfache Lösung ab. Erneut bemühte er dabei das Argumentationsmuster, dass Deutschland nicht zu einer Kriegspartei in einem Bürgerkrieg werden solle: „Ich will mich an einem militärischen Einsatz deutscher Soldaten in Libyen nicht beteiligen, und deswegen wende ich mich dagegen. Es gab eine Verantwortung der Staaten der arabischen Region, es sind lauter Nachbarländer da, die Arabische Liga muss auch die eigene Verantwortung wahrnehmen, und ich möchte nicht, dass Deutschland Teil eines Krieges in Libyen wird, eines dauerhaften Bürgerkrieges in Libyen wird“.[167] Um neun Uhr deutscher Zeit begann im Bundestag die Debatte zur Energiewende mit der Regierungserklärung der Kanzlerin – eine gleichzeitige Herausforderung, die aufgrund der nahenden Landtagswahlen die Konzentration der Bundesregierung erforderte. Diesem Umstand ist auch die Tatsache geschuldet, dass sich die Diplomaten des Auswärtigen Amtes erst gegen 14 Uhr deutscher Zeit mit Westerwelle über die deutsche Haltung im Sicherheitsrat abstimmen konnten – zuvor war auch Westerwelle im Bundestag gebunden. Teil der Runde im Auswärtigen Amt waren Westerwelles Büroleiter Thomas Bagger, der Nahostbeauftragte Thomas Michaelis, Michael Freiherr von Ungern-Sternberg, Emily Haber, der Staatssekretär für Europa Wolf-Ruthart Born und der aus New York zugeschaltete Peter Wittig. Gemeinsam wollte man die Chancen und Risiken aller Optionen des deutschen Abstimmungsverhaltens eruieren. Wittig sprach sich dafür aus, der Resolution zuzustimmen, sich jedoch einer militärischen Beteiligung zu enthalten. Auch Emily Haber soll Westerwelle geraten haben, der Resolution zuzustimmen.[168] Die Parallelität der Ereignisse an den auch durch Zeitverschiebung getrennten Orten bestimmte nun die Dynamik.

Kurz nach dem Treffen im Berliner Außenamt trafen sich die Mitglieder des Sicherheitsrates bereits auf Ebene der Mitarbeiter der ständigen Vertretungen zu einer technischen Diskussion, die um 15 Uhr begann.[169] Für 17 Uhr deutscher Zeit war dann die Zusammenkunft der ständigen Vertreter angesetzt. Gleichzeitig dazu traf sich in Berlin abermals die Runde im Auswärtigen Amt. Westerwelle pochte entgegen des Vorschlags seiner führenden Mitarbeiter darauf, dass es nicht möglich sei, der Resolution zuzustimmen und dann nicht an der Operation teilzunehmen.[170] Dieses Argument führt er auch in dem späteren Treffen im Kanzleramt an, wo sich Merkel, de Mazière und Westerwelle zur schlussendlichen Beratung der Entscheidung der Bundesregierung trafen. Habers Plädoyer für eine Zustimmung wurde dabei vom außen- und sicherheitspolitischen Berater der Bundeskanzlerin, Christoph Heusgen, unterstützt.[171] Die Minister und die Bundeskanzlerin vertraten jedoch die Meinung, eine Zustimmung zur Resolution ohne militärische Beteiligung bei der Durchführung der Flugverbotszone wäre nicht praktikabel und würde in der Öffentlichkeit negative Reaktionen hervorrufen.[172] Zudem hatten sich Merkel und Westerwelle auch schon öffentlich positioniert. Damit fiel die Entscheidung zu einer Enthaltung inmitten von hektischen Telefonaten der letzten Minute, bei denen Merkel einen späten Anruf Obamas nicht annahm, dem britischen Premier Cameron gegenüber jedoch versicherte, dass die Bundesregierung nötigenfalls mit „Ja“ stimmen könnte – wenn die Verabschiedung denn an einer fehlenden Stimme zu scheitern drohen würde.[173] Westerwelle erfuhr von Außenminister Amado, dass Portugal trotz seiner zunächst vehementen Interventionsablehnung in der Ratssitzung vom 11. März 2011 nun doch der Resolution zustimmen wollte. Damit wurde die deutsche Enthaltung nicht zur deutschen Verhinderung – ein Resultat, das die politischen Kosten für Deutschland gegenüber seinen engen Verbündeten Frankreich, Großbritannien und den USA nochmals exorbitant hätte wachsen lassen.[174]

In New York wurde um 22 Uhr deutscher Zeit klar, dass keines der Sicherheitsratsmitglieder ein Veto gegen die Resolution einlegen werde.[175] Bei der mitternächtlichen Abstimmung enthielt sich Deutschland ebenso wie China, Russland, Brasilien und Indien. Mit „Ja“ gestimmt hatten Frankreich, Großbritannien, die USA, Bosnien und Herzegowina, Kolumbien, Gabon, der Lebanon, Nigeria, Portugal und Südafrika. In der deutschen Erklärung zum Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat machte UN-Botschafter Peter Wittig deutlich: „We have gathered today to address the serious situation in Libya. Our intention is to stop the violence in the country and to send clear messages to Al-Qadhafi and his regime that their time is over. Muammar Al-Qadhafi must relinquish power immediately. His regime has lost all legitimacy and can no longer be an interlocutor for us. […] Aspirations to democracy and human and individual rights merit our full support. They offer unique opportunities for political, social and economic transformation. To achieve this goal, we seek close cooperation with our partners in the region, in particular the League of Arab States and the African Union. Our aim is to promote the political transformation of Libya. We see a need to stop the violence and to start a true political process. The basis for democracy and the rule of law in Libya needs to be established and broadened. […] We are particularly concerned about the plight of the Libyan people and the widespread and systematic attacks they are suffering. It is therefore crucial that we tighten the sanctions against the Al-Qadhafi regime even more. We need to cut it off from the financial means that have helped it to remain in power. In our view, strong sanctions, backed by the whole international community, will be an effective way to end the rule of Muammar Al-Qadhafi and thereby to initiate the necessary political transition. We have contributed a number of proposals in this regard. Germany fully supports the package of economic and financial sanctions in the resolution just adopted. Decisions on the use of military force are always extremely difficult to take. We have very carefully considered the option of using military force — its implications as well as its limitations. We see great risks. The likelihood of large-scale loss of life should not be underestimated. If the steps proposed turn out to be ineffective, we see the danger of being drawn into a protracted military conflict that would affect the wider region. We should not enter into a militarily confrontation on the optimistic assumption that quick results with few casualties will be achieved. Germany therefore decided not to support a military option, as foreseen particularly in paragraphs 4 and 8 of the resolution. Furthermore, Germany will not contribute to such a military effort with its own forces. Germany therefore decided to abstain in the voting.”[176]

Teil II: Dossier
Die Dossiers dienen dazu, eine Orientierung hinsichtlich der organisatorischen Rahmenbedingungen des krisenhaften Entscheidens der Bundesregierung zu bieten. Dazu erfolgt ein Überblick über die Tätigkeit des Sicherheitsrates und Deutschlands Rolle als nichtständiges Mitglied, das Konzept der Schutzverantwortung sowie über grundlegende Leitlinien und Motive deutscher Außenpolitik. Angesichts der großen Anzahl internationaler Konferenzen und Treffen verschiedener internationaler und regionaler Organisationen folgt zunächst eine Auflistung der wichtigsten Ereignisse:

1. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stellt dessen Exekutivorgan dar.[177] Der Rat besteht aus fünf ständigen (Großbritannien, Frankreich, Russland, China und die USA als Siegermächte des Zweiten Weltkriegs) und zehn nichtständigen Mitgliedern, die für eine Amtsdauer von zwei Jahren nach einem Regionalschlüssel von der Vollversammlung der Vereinten Nationen gewählt werden (drei Sitze für die afrikanischen, einer für die osteuropäischen, je zwei für die asiatischen, lateinamerikanischen sowie die westeuropäischen und anderen Staaten). Der Sicherheitsrat kann nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen völkerrechtlich bindende Resolutionen erlassen, die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft auf ein bestimmtes Thema lenken und Verhaltensweisen, die den Weltfrieden bedrohen, sanktionieren. Die Sanktionsmechanismen des Sicherheitsrates reichen von Appellen an Konfliktparteien, wirtschaftlichen Sanktionen, diplomatischen und nicht-militärischen Mitteln bis zum Einsatz von Waffengewalt, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit wieder herzustellen. Solche Beschlüsse des Sicherheitsrates bedürfen einer Mehrheit von neun der fünfzehn Mitglieder. Darüber hinaus darf keines der ständigen Mitglieder ein Veto einlegen. Enthaltungen sind möglich: Sie halten im Falle von ständigen Mitgliedern des Rates eine Resolution nicht auf; werden jedoch auch nicht auf die neun notwendigen Ja-Stimmen angerechnet. Die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verpflichten sich mit ihrem Beitritt zu den Vereinten Nationen dazu, die Beschlüsse des Sicherheitsrates umzusetzen. Der Sicherheitsrat verfügt allerdings nicht – wie u.a. in der Charta vorgesehen – über eigene Truppen und ist dementsprechend auf die freiwillige Truppenstellung seiner Mitglieder angewiesen. Sowohl die Zusammensetzung als auch die Arbeitsweise des Rates stehen seit Längerem in der Kritik. In diesem Zusammenhang wirbt eine Gruppe von vier Staaten, zu denen auch Deutschland gehört, für eine Reform des Rates – inklusive weiterer neuer ständiger Sitze. Neben Deutschland gehören dieser Gruppe Indien, Japan und Brasilien an. Der Sicherheitsrat zur Zeit der Libyen-Entscheidung wurde deshalb besonders intensiv wahrgenommen, da (bis auf Japan) die Gruppe der Vier ebenso wie Südafrika, das als weiterer Kandidat gilt, im Rat vertreten waren. In dieser Konstellation konnte man eine Vorwegnahme eines reformierten Rates erkennen. Im März 2011 waren als nichtständige Mitglieder im Rat des Weiteren folgende Nationen vertreten: Gabun, Nigeria, Libanon, Bosnien-Herzegowina und Kolumbien.


Als nichtständiges Mitglied war Deutschland bislang fünf Mal im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vertreten: 1977/1980, 1987/1988, 1995/1996, 2003/2004 und in den Jahren 2011/2012.[178] Bis zur Abstimmung über Resolution 1973 hatte Deutschland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen insgesamt 351 Mal abgestimmt. Dabei findet sich keine einzige Nein-Stimme Deutschlands unter diesen Abstimmungen. Ebenso waren Enthaltungen besonders selten: In den Jahren seiner Mitgliedschaft hat sich Deutschland nur zu insgesamt sechs Resolutionen enthalten.[179] Zwischen der Enthaltung eines ständigen Mitgliedes und eines nichtständigen Mitglieds gibt es diplomatisch gesehen durchaus einen Unterschied: Ein ständiges Mitglied verzichtet mit einer Enthaltung auf eine Blockade durch sein Veto. Diese Enthaltung ist also eher ein indirektes „Ja“. Die Enthaltung eines nichtständigen Mitglieds reduziert in erster Linie die Anzahl der möglichen Ja-Stimmen und wird diplomatisch deshalb auch eher als ein indirektes „Nein“ gewertet. Die Mitglieder versuchen in der Regel konsensual abzustimmen und offene Positionierungen für oder gegen umstrittene Resolutionsentwürfe zu vermeiden. Insofern werden i.d.R. so lange Verhandlungen geführt und Kompromissformulierungen gesucht, bis das Ergebnis gemeinsam getragen werden kann. Dieser Weg ist jedoch wiederum besonders in Krisensituationen manchmal keine Alternative. Auch vor diesem Hintergrund ist die Enthaltung bei Resolution 1973 als herausgehobenes Ereignis der deutschen Außenpolitik zu werten. Die Situation in Libyen kann in der Tat als unvorhergesehene Krise gelten. Zu Beginn der deutschen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat im Jahr 2010 wurden durch Außenminister Westerwelle die Leitlinien festgelegt, die die deutsche Politik mit ihrem nichtständigen Sitz verfolgen wollte: Krisenbewältigung und -prävention, Einsatz für Menschenrechte und Terrorbekämpfung.[180] In einem Interview mit BILD erklärte Westerwelle allerdings auch, dass Deutschland dazu beitragen wolle, dass „regionale Konflikte gelöst oder verhindert werden und die Welt ein Stück friedlicher wird. Wir Deutsche gelten bei den Vereinten Nationen als ein sehr zuverlässiges Land“.[181] Im Nachgang der dargestellten Ereignisse hielt die Bundesregierung für das Jahr 2011 in ihrem Bericht über die deutsche Mitgliedschaft im Sicherheitsrat nüchtern fest: „Das erste Jahr der deutschen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat war (zudem) stark von den Umbrüchen in der arabischen Welt geprägt. Mit Sicherheitsratsresolution 1970 (2011) vom 26. Februar 2011 hat der Sicherheitsrat schnell auf die gewaltsame Entwicklung in Libyen reagiert. Mit deutscher Unterstützung wurde die Situation in Libyen an den Internationalen Strafgerichtshof zur strafrechtlichen Untersuchung überwiesen, außerdem wurden ein Waffenembargo gegen Libyen sowie Reisebeschränkungen und Vermögenseinfrierungen gegen Mitglieder der libyschen Führung verhängt. Mit der Resolution 1973 (2011) des Sicherheitsrats vom 17. März 2011 autorisierte der Sicherheitsrat schließlich auch die Anwendung „aller notwendigen Mittel“ und eine Flugverbotszone, um den Schutz unmittelbar bedrohter Zivilisten zu ermöglichen. Deutschland hat sich bei dieser zweiten Libyen-Resolution wegen der mit einem militärischen Eingreifen verbundenen Risiken enthalten. Die Umsetzung der Sicherheitsratsresolution 1973 (2011) hat in der Folge im Sicherheitsrat zu einer Kontroverse geführt.“[182]

2. Die Responsibility to Protect
Das Konzept der Schutzverantwortung („Responsibility to Protect“) ist im Kern mit dem Problem humanitärer Interventionen verbunden, also der Frage, wann es geboten oder sogar erlaubt sein sollte, gegen den Willen einer Staatsmacht von außen in die inneren Angelegenheiten eines Staates einzugreifen.[183] Die Charta der Vereinten Nationen schützt ausdrücklich die staatliche Souveränität. Die Mitglieder der UNO haben zudem ein allgemeines Gewaltverbot in der internationalen Politik akzeptiert. Neben unmittelbarer Selbstverteidigung ist nur der Sicherheitsrat berechtigt, militärische Maßnahmen im gemeinsamen Interesse der Staatengemeinschaft anzuordnen. Die Frage, wann solche Maßnahmen gerechtfertigt erscheinen, wurde durch die ideologische Blockade des Sicherheitsrates während des Kalten Krieges sowie Patronagepolitik und widerstreitende Lesarten von Normen wie Menschenrechten und nationaler Selbstbestimmung lange Zeit verhindert. Statt dessen kam es gelegentlich zu Interventionen einzelner Staaten oder Staatengruppen (etwa Indien in Ost-Pakistan 1971, Vietnam in Kambodscha 1978, Tansania in Uganda 1979), die sich zwar auch durch Massaker und Gräueltaten veranlasst sahen, sich rechtlich aber eher auf die Begründung der Selbstverteidigung bezogen. Mit seiner wiedergewonnenen Handlungsfähigkeit nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich der Sicherheitsrat mehr und mehr diesem Thema angenommen: Bedeutsame Meilensteine waren hier im Jahr 1991 die Resolution 688, die die massenhafte Flucht von Kurden aus dem Irak als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit interpretierte und die Situation im Irak damit nicht mehr nur als innerstaatliche Verantwortlichkeit definierte.[184] Ähnlich argumentierte Resolution 794 im Jahr 1992 als der Rat sich der Situation in Somalia annahm und angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe eine Bedrohung des Weltfriedens ohne die Beteiligung eines anderen Staates konstatierte.[185] Der Sicherheitsrat erhöhte also seine Sensibilität gegenüber innerstaatlich hervorgerufenen Notlagen deutlich. Allerdings kam es nicht zur Etablierung einer kohärenten und unhinterfragten Praxis humanitärer Interventionen. Besonders deutlich wurde dies mit der Doppelerfahrung des Genozids in Ruanda und der Politik ethnischer „Säuberung“ im ehemaligen Jugoslawien. In beiden Fällen konnte bzw. wollte der Rat aufgrund unterschiedlicher Sichtweisen sich abzeichnende Massenverbrechen nicht aufhalten. Umgekehrt zeigt der Fall des Kosovo, dass nicht nur „Nicht-Handeln“, sondern auch „Handeln“ Auswirkungen auf das System kollektiver Sicherheit haben kann. Hier handelte eine Staatengruppe mit militärischen Maßnahmen gegen Serbien – allerdings ohne Mandat des Rates, in dem insbesondere ein Veto Russlands gegen solche Maßnahmen erwartet wurde.[186] Genau dieses Spannungsverhältnis von Intervention im Namen der Menschenrechte und dem völkerrechtlichen Schutz der staatlichen Souveränität behandelte eine internationale Expertengruppe, die International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS).[187]
Das Konzept der Schutzverantwortung stellt das hauptsächliche Ergebnis dieser Kommissionsberatungen dar, die 2001 in einem Bericht veröffentlicht wurden. Danach liegt die Verantwortung zum Schutz der eigenen Bürger zunächst bei der jeweiligen nationalen Regierung. Wenn diese jedoch nicht in der Lage oder nicht willens ist, diesen Schutz zu gewährleisten, dann greift auch eine internationale Verantwortung zum Schutz vor massenhafter Tötung und Sterben. Die Schutzverantwortung ist dabei als umfassendes Konzept angelegt, das eine Verantwortung zur Prävention im Vorfeld von Krisensituationen, zur Reaktion auf unmittelbare Gefahren und nach Konflikterfahrungen beinhaltet. Nur die zweite Verantwortung beinhaltet potentiell den Einsatz militärischer Mittel. Autorisierungen zum Einsatz von Gewalt soll dabei einzig der Sicherheitsrat anordnen, wenngleich der Bericht auch Alternativen im Fall von Blockade etc. diskutiert. Als politisches Konzept zur Prüfung von solchen Krisensituationen stellt der Bericht auch eine Reihe von Kriterien zur Beurteilung von Entscheidungssituationen vor. Das Konzept hat seither eine erstaunlich schnelle Rezeption gefunden und wurde im Jahr 2005 sogar anlässlich der bis dato größten Versammlung von Staats- und Regierungschefs in New York in das Abschlussdokument des Weltgipfels der Vereinten Nationen aufgenommen.[188] Dort heißt es:


„138. Each individual State has the responsibility to protect its populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. This responsibility entails the prevention of such crimes, including their incitement, through appropriate and necessary means. We accept that responsibility and will act in accordance with it. The international community should, as appropriate, encourage and help States to exercise this responsibility and support the United Nations in establishing an early warning capability. 139. The international community, through the United Nations, also has the responsibility to use appropriate diplomatic, humanitarian and other peaceful means, in accordance with Chapters VI and VIII of the Charter, to help protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. In this context, we are prepared to take collective action, in a timely and decisive manner, through the Security Council, in accordance with the Charter, including Chapter VII, on a case-by-case basis and in cooperation with relevant regional organizations as appropriate, should peaceful means be inadequate and national authorities manifestly fail to protect their populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. (…).“[189]

Damit hatten sich die unterzeichnenden Staaten dazu verpflichtet, das Konzept von Souveränität als Verantwortlichkeit des Staates seiner Bürger gegenüber anzuerkennen und umzusetzen. Aus rechtlicher Perspektive hat die Etablierung von R2P auf internationaler Ebene keine grundlegende Veränderung herbeigeführt.[190] Die Vereinten Nationen schufen kein neues Völkerrecht, aber sie begründeten eine neue politische Debatte.[191] In der Folge kam es in einer Vielzahl von Situationen zur Bezugnahme auf die Schutzverantwortung. Die Libyen-Entscheidung gilt jedoch als die erste deutliche Übernahme der Logik in eine Resolution des Sicherheitsrates und wird insofern von einigen Beobachtern als Durchbruch für die Etablierung einer neuen Norm gedeutet.

Die Bundesrepublik positionierte sich von Beginn an sehr unterstützend gegenüber der Schutzverantwortung. Deutschland ließ dem Ende 2007 eingesetzten Sonderberater des Generalsekretärs, Edward C. Luck, politische und materielle Hilfe zukommen. Weiterhin fügt sich das Prinzip der Schutzverantwortung in das deutsche Engagement für den Internationalen Strafgerichtshof, dessen Aufgabe es ist, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu ahnden, wenn dies nicht durch nationale Gerichtsbarkeit geschehen kann.[192] Ab Anfang 2009 unterstützte Deutschland die Europäische Union dabei, in New York gegenüber den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen gezielt für die Schutzverantwortung zu werben. Deutschland wertete es in der Folge auch als einen Teilerfolg, dass in der nachfolgenden Debatte in der Generalversammlung ein hohes Maß an grundsätzlicher Zustimmung zur Schutzverantwortung laut wurde.[193] Die Stimmenthaltung bei der Libyen-Resolution führte in dieser Hinsicht zu Irritationen.
In seiner Regierungserklärung am 18. März verteidigte Außenminister Westerwelle das deutsche Abstimmungsverhalten: „Wir unterstützen ausdrücklich die Elemente der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates, durch die die Sanktionen gegen das Gaddafi-Regime verschärft werden. Wir Deutsche selbst haben in New York die Vorschläge für noch umfassendere Wirtschafts- und Finanzsanktionen eingebracht und auch vorangetrieben. Deutschland hat sich als eines der ersten Länder in Brüssel und übrigens auch in New York für eine eindeutige Haltung gegenüber dem Diktator Gaddafi ausgesprochen, für eine Isolierung des Systems Gaddafi, und für Sanktionen gegen sein Regime haben wir uns ebenfalls in Brüssel und auch in New York sehr frühzeitig stark gemacht“.[194] Westerwelle verwies weiter darauf, dass die Sanktionen gegen das Regime verstärkt werden müssten, verwandte aber die Formulierung, dass Gaddafi „Krieg gegen das eigene Volk“[195] führe, um im weiteren Verlauf seiner Regierungserklärung anzumerken, dass Deutschland nicht in der Lage sei „überall auf der Welt die Unterdrückung zu beseitigen“.[196] Westerwelle begründete die deutsche Enthaltung damit, dass eine deutsche Zustimmung zwangsweise auch das Entsenden deutscher Truppen bedeutet hätte und argumentiert, dass dies für die Regierung eine zu unsichere Mission gewesen sei.[197] Der Außenminister schloss seine Ausführungen mit den Worten: „Aber für uns ist klar: In der Abwägung der Argumente sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass wir uns mit deutschen Soldaten an einem solchen Kampfeinsatz in Libyen nicht beteiligen werden. Deswegen hat sich die Bundesregierung, hat sich Deutschland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen enthalten“.[198]
Die Abgeordnete Wieczorek-Zeul (SPD) hatte unmittelbar nach der Abstimmung in deutlichen Worten konstatiert, dass sie die Enthaltung für eine Schande halte: „Gegenüber Despoten kann es bei solchen Entscheidungen keine Enthaltung geben“.[199] Ebenso verwies Renate Künast (Bündnis 90/Grüne) auf die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft und kritisierte die passive Haltung der Regierung.[200] Abseits dieser beiden Wortmeldungen wurde das Prinzip der Schutzverantwortung seitens der Abgeordneten des deutschen Bundestags in der Debatte nicht mehr weiter aufgegriffen. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Ruprecht Polenz (CDU), wandte sich in der Fraktionssitzung nach dessen Statement an Westerwelle und erklärte, zwischen dessen Aussage „Gaddafi müsse weg“ und Deutschlands Verhalten im SR „klaffe eine operative Lücke“ – insbesondere weil auch Bedingungen deutschen Engagements (wie weitere regionale Unterstützung) ja erfüllt gewesen sind. Rolf Mützenich (SPD) unterstellte Westerwelle bei seiner Enthaltung „innenpolitische Motive“.[201] Grundsätzlich aber konnte im Parlament parteiübergreifend auch Unterstützung für den Kurs der Bundesregierung festgestellt werden. Dies schloss Westerwelles Vorgänger (und Nachfolger) Frank-Walter Steinmeier ein, der erklärte, er habe die Enthaltungsentscheidung nachvollziehen können.[202]

Im Nachgang zur Abstimmung stellte Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) im Deutschen Bundestag die Frage, welche Schritte die Bundesregierung unternommen hätte, um die Internationale Schutzverantwortung umzusetzen, und wo die Bundesregierung noch Handlungsbedarf sehen würde. Staatssekretärin Emily Haber antwortete für die Bundesregierung in einem Bericht vom 29. Juli 2011: „Die Bundesregierung teilt die in dem Bericht des Generalsekretärs vorgenommene Ausgestaltung der Schutzverantwortung als Dauer- und Querschnittsaufgabe, die sich nur durch eine kohärente und nachhaltige Politik der gesamten Staatengemeinschaft umsetzen lässt. Diesem Ziel tragen die Menschenrechts- und Entwicklungspolitik der Bundesregierung, das von ihr verfolgte Konzept der zivilen Krisenprävention und eine Vielzahl von Projekten Rechnung, mit denen Deutschland die friedenswahrenden Kapazitäten von Staaten, die Stärkung der Zivilgesellschaft, Prozesse der politischen Teilhabe einschließlich der Rolle der Frauen bei der Konfliktbewältigung sowie die Demokratisierung und Förderung der Rechtsstaatlichkeit unterstützt“.[203] Der Bericht führt weiter aus, dass „die Bundesregierung […] die Umsetzung der Schutzverantwortung in diesem Sinn auch durch die Stärkung regionaler und subregionaler Mechanismen und Institutionen der Konfliktvermeidung [verfolgt] sowie gemeinsam mit ihren Partnern in der Europäischen Union und anderen internationalen Organisationen. Die Bundesregierung fördert darüber hinaus die Tätigkeit des Sonderberaters des Generalsekretärs für die Schutzverantwortung (Prof. Dr. Edward Luck) und des Sonderberaters zur Verhinderung von Völkermord (Prof. Dr. Francis Deng) finanziell und politisch. Deutschland ist Mitglied der Group of Friends on Responsibility to Protect“.[204] Hervorzuheben ist, dass hier jeglicher Hinweis auf die militärische Dimension der Schutzverantwortung fehlt. Der Fokus liegt vor allem auf der Responsibility to Prevent (RtoP). So ist es auch im Bericht der Bundesregierung über die deutsche nichtständige Mitgliedschaft der Jahre 2011 und 2012 nachzulesen: „Der Schwerpunkt des deutschen RtoP-Engagements liegt im präventiven Bereich.“[205]

Im aktuellen Diskurs bleibt die Responsibility to Protect weiterhin umstritten. Innerhalb der Responsibility to Protect steht die Möglichkeit einer militärischen Intervention – entgegen der öffentlichen Meinung – nicht als alleiniges Instrument zur Verfügung, sondern ist nur ein Teil eines umfassenden Instrumentariums, das das Aufkommen einer Krise, das konkrete Abwenden einer Krise und die Nachsorge von Krisensituationen umfasst. Wie unter Artikel 139 des World Summit festgehalten wurde, verpflichtet sich die Weltgemeinschaft dazu, „to take collective action, in a timely and decisive manner, through the Security Council, in accordance with the Charter, including Chapter VII, on a case-by-case basis and in cooperation with relevant regional organizations as appropriate, should peaceful means be inadequate and national authorities manifestly fail to protect their populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity”[206]. Der Report des ICISS listet dementsprechend drei Verantwortlichkeiten: Die Responsibility to Prevent, die Responsibility to React und die Responsibility to Rebuilt. Militärische Maßnahmen fallen dabei unter die Responsibility to React, die wirksam wird, wenn “preventive measures fail to resolve or contain the situation and when a state is unwilling or to redress the situation, then interventionary measures by other members of the broader community of states may be required. These coercive measures may include political, economic or judicial measures and in extreme cases – but only extreme cases – they also may include military action”.[207] Die Intervention in Libyen hat jenseits der Abwendung der unmittelbaren Gefährdung Benghazis auch weitergehende Fragen nach der konkreten Auslegung des Mandates der Sicherheitsratsresolution sowie nach möglichen Konsequenzen des Regimewechsels und der Friedenskonsolidierung aufgeworfen. Dabei geht es – wie das Beispiel Syrien zeigt – im Kern weiterhin um die Abwägung der Konsequenzen des Handelns und des Nicht-Handelns. In den politischen Debatten nach der Libyen-Entscheidung vermischen sich dabei wiederum ethische Motive mit geostrategischen und nationalen Interessen.

3. Die Außenpolitik der Bundesrepublik
Das außenpolitische Handeln der Akteure auf Seiten der Bundesregierung stellt sich auf struktureller Ebene als doppelt eingebunden dar: Zum einen handelt es sich bei Außenpolitik grundsätzlich um ein Zwei-Ebenen-Spiel nach Putnam.[208] Dementsprechend sind Regierungsvertreter darum bemüht, einerseits außenpolitisch ihre Interessen durchzusetzen und andererseits auf nationalstaatlicher Ebene Unterstützung für ihre Politik zu mobilisieren. Dies könnte den Handlungsspielraum deutscher Außenpolitik dadurch einschränken, dass die Bundesregierung darauf abzielt, außenpolitische Entscheidungen so zu treffen, dass sie nicht im Widerspruch zu ihrem innenpolitischen Machterhalt stehen.[209] Bei der Bearbeitung der vorliegenden Studie wäre etwa zu beachten, dass am 27. März 2011 sowohl in Baden-Württemberg als auch in Rheinland-Pfalz Landtagswahlen stattfanden und die Bundesregierung dementsprechend sowohl auf innen- als auch auf außenpolitischer Ebene mit schwierigen politischen Entscheidungen konfrontiert war – die im Fall Libyen und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit würden Einfluss auf die Ergebnisse der Landtagswahlen haben können. Ein solches Verständnis des Zwei-Ebenen-Spiels basiert jedoch zugleich darauf, dass die Phänomene, Anforderungen und Problemlagen auf den beiden Ebenen adäquat erkannt werden. Gerade dies kann in Krisensituationen besonders schwierig sein.[210] Die Logik des Zwei-Ebenen-Spiels impliziert allgemein aber auch die Möglichkeit, dass die Dynamiken auf der Ebene internationaler Verhandlung und Abstimmung Einfluss auf die Interessenkalkulation auf der nationalen Ebene haben können. Tatsächlich ist die deutsche Außenpolitik gerade in einem solchen Beispiel wie der Libyen-Entscheidung in gleich mehrere multilaterale Foren eingebunden. Diese haben durch die Taktung ihrer Treffen und Zusammenkünfte in mehrfacher Hinsicht die Dynamik der entscheidenden Tage vor Verabschiedung der Resolution 1973 gestaltet.

Programmatisch wurde die deutsche Außenpolitik maßgeblich von den Ereignissen des zweiten Weltkriegs und den daraus resultierenden Lehren geprägt, dementsprechend ist sie werteorientiert und stark multilateral orientiert. Es sind insbesondere die Vorgaben des Grundgesetzes, die Westbindung über die europäische Integration und die NATO, sowie die besonderen Beziehungen zu Frankreich und den USA, sowie intensive Kontakte nach Osteuropa (hier insbesondere zu Polen). Als führende Exportnation ist Deutschland zugleich um eine normen- und regelgeleitete Gestaltung der weltweiten Globalisierung bemüht.[211] Die Vereinten Nationen, in die beide deutsche Staaten am 18. September 1973 aufgenommen wurden, sind in mehrfacher Hinsicht mit diesen Grundorientierungen der deutschen Außenpolitik kompatibel und haben auch für das wiedervereinte Deutschland einen herausgehobenen Stellenwert.[212] Die Wiedervereinigung veränderte zugleich die internationalen Erwartungshaltungen an die Bundesrepublik. Besonders deutlich zeigt sich der Wandel u.a. in der Rolle Deutschlands bei Militäreinsätzen im Ausland. Bis zum Beginn der neunziger Jahre hatte Deutschland mit Verweis auf die eigene Geschichte und die Sondersituation der Existenz zweier deutscher Staaten, die in unterschiedlichen Paktsystemen organisiert waren, die Beteiligung an UNO-Operationen ausgeschlossen.[213] Dies wandelte sich mit dem Urteil des Bundeverfassungsgerichtes zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr von 1994: Deutschland konnte und musste nun zunehmend militärische Verantwortung übernehmen und sich neu positionieren.[214] Es folgte eine Reihe von Einsätzen in UNO-geführten und UNO-mandatierten Operationen.

Eine einflussreiche Konzeption der außenpolitischen Rolle der Bundesrepublik ist mit dem Begriff der Zivilmacht verbunden.[215] Im Kern zielt eine solche Rolle auf die Zivilisierung der internationalen Politik – also die Entprivatisierung von Gewalt, die Stärkung der Herrschaft des Rechts, des Prinzips von Gerechtigkeit und demokratischer Beteiligung sowie eine konstruktive Konfliktkultur. Zivilmacht erforderte einen deutlichen Gestaltungsanspruch seitens der handelnden Akteure, was damit einhergeht, dass der Wille zur Gestaltung so weit gehen muss, dass auch die Option eines möglichen Scheiterns beim Verfolgen der politischen Ziele einkalkuliert und akzeptiert wird.[216] Dieses Konzept, entwickelt von Hanns W. Maull,[217] enthielt in seiner ursprünglichen, wissenschaftlichen Konzeption auch den Verweis darauf, dass es nicht pazifistisch zu verstehen ist, sondern ebenso militärische Zwangsmaßnahmen seitens der internationalen Staatengemeinschaft beinhalten kann und auch Deutschland gut daran tue, die Bundeswehr für solche Einsätze vorzubereiten.[218] Der Begriff fand allerdings eine Umdeutung, da einige politische Akteure den Begriff als Gegensatz zu militärischem Agieren verwandten.[219] Eine solche Lesart ist verbunden mit dem Postulat einer „Kultur der militärischen Zurückhaltung“ deutscher Außenpolitik, die den Fokus auf präventive Politik vor Ausbruch vor Krisen legt. Der Topos der „militärischen Zurückhaltung“ lässt jedoch seinerseits auch unterschiedliche Deutungen zu: Die Frage ist, ob die Mahnung zu Zurückhaltung auch die Kritik an militärischem Engagement anderer Staaten einschließt und deutsches militärisches Engagement selbst in zugespitzten Krisensituationen ausschließt. Außenminister Westerwelle legte dieses Prinzip sehr restriktiv aus; der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe, der dieses Konzept geprägt hatte, verstand das Prinzip nicht in diesem Sinne.[220] Die Debatte und Positionierungen um die Entscheidung zur Libyen-Resolution illustrieren deutlich, dass die Grundsätze, Leitlinien und Rollenbilder Deutschlands durchaus unterschiedlich ausgelegt werden und auch untereinander in Konflikt geraten können.

Für die vorliegende Studie ist die Positionierung der schwarz-gelben Koalitionsregierung in Sachen Außenpolitik von besonderem Interesse. Hierzu heißt es im Koalitionsvertrag: „Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und eine marktwirtschaftliche Ordnung bestimmen unser Handeln für Deutschland in der Welt. Wir stehen für eine Außenpolitik, die werteorientiert und interessengeleitet ist. Wir stehen für eine Außenpolitik, die durch Abrüstung zu Frieden und Freiheit in der Welt beiträgt. Wir werden weiter aktiv an einer gemeinsamen Zukunft mit unseren Partnern in der Europäischen Union arbeiten. Wir werden den neuen Schwung in den Transatlantischen Beziehungen für eine aktive Außenpolitik entschlossen nutzen. Wir stellen uns den neuen internationalen Herausforderungen und nehmen damit die neue Rolle Deutschlands in Europa und in der Welt an. Wir werden die damit verbundenen Verpflichtungen in Verantwortung erfüllen. Wir setzen uns für Frieden, Freiheit und Sicherheit in der Weltgemeinschaft ein.“[221] Es findet sich also in Bezug auf die außenpolitische Orientierung der Bundesrepublik ein Bekenntnis zu wertegeleiteter Außenpolitik in Verbindung mit der Bekräftigung, dass Deutschland seine Verantwortung auf internationaler Ebene wahrnehmen wolle. In Bezug auf den langjährigen Partner USA erklärt die Koalition: „Wir sind entschlossen, die Chancen im transatlantischen Verhältnis zu nutzen und werden deshalb das deutsch-amerikanische Vertrauensverhältnis systematisch stärken. Die enge politische Koordination mit den Vereinigten Staaten sehen wir als Kraftverstärker unserer Interessen, der das Gewicht Deutschlands in Europa und der Welt erhöht.“[222] Weiter heißt es in Sachen internationaler Konfliktbearbeitung und -beilegung: „Bei der internationalen Krisenprävention und -bewältigung stehen bei uns politische und diplomatische Bemühungen an erster Stelle, dennoch wächst die Bedeutung des Einsatzes ziviler Kräfte von Polizei und Justiz. Wir müssen gemeinsam mit unseren Partnern darauf vorbereitet sein, mit diesen Mitteln krisenhaften Entwicklungen frühzeitig entgegenzusteuern und bei Ausbruch von Krisen schnell und verlässlich zu handeln.“[223] In Bezug auf den Schutz von Menschenrechten heißt es: „Die Glaubwürdigkeit Deutschlands steht in direktem Zusammenhang mit dem konsequenten Eintreten für die Menschenrechte in der Außen- und Entwicklungspolitik. Ihre Einhaltung ist das Fundament für die demokratische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung jedes Landes. Körperliche und geistige Unversehrtheit, Gedanken- und Meinungsfreiheit und die Freiheit von Diskriminierung sind unveräußerliche Prinzipien unserer Menschenrechtspolitik. Wir wenden uns auch in unseren auswärtigen Beziehungen gegen jegliche Benachteiligung aufgrund von Religion, ethnischer Herkunft, Geschlecht oder sexueller Orientierung.“[224] Diese Betonung einer Verpflichtung der Regierungspolitik auf die Menschenrechte wurde auch institutionell nochmals deutlich akzentuiert: „Wir setzen uns für eine Evaluierung des Rom-Statuts zum IStGH ein, mit dem Ziel, Strafbarkeitslücken zu schließen. Wir bekennen uns zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands und treten für eine bessere Durchsetzung des Völkerstrafgesetzbuchs ein. […] Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen darf nicht zum Spielfeld nationaler Machtinteressen werden, sondern soll sich als internationales Sprachrohr gegen Menschenrechtsverletzungen etablieren.“[225]

In Übereinstimmung mit diesen Positionierungen legte Außenminister Westerwelle zu Beginn der deutschen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat im Jahr 2010 die Leitlinien fest, die die deutsche Politik mit ihrem nichtständigen Sitz verfolgen wollte: Krisenbewältigung und -prävention, Einsatz für Menschenrechte und Terrorbekämpfung.[226] In einem Interview mit BILD erklärte der Außenminister diesbezüglich, dass Deutschland dazu beitragen wolle, dass „regionale Konflikte gelöst oder verhindert werden und die Welt ein Stück friedlicher wird. Wir Deutsche gelten bei den Vereinten Nationen als ein sehr zuverlässiges Land“.[227] Es finden sich also im Koalitionsvertrag und im Programm für die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat dezidierte Verweise darauf, dass die Bundesrepublik im Krisenfall ihre Verantwortung frühzeitig wahrnehmen und schnell handeln wolle. Gleichzeitig wird die außenpolitische Glaubwürdigkeit Deutschlands an die Durchsetzung und Wahrung der Menschenrechte gekoppelt. Dieses Bekenntnis wurde durch eine langjährige, erkennbare Unterstützung des Konzepts der Schutzverantwortung untermauert, im Zuge der Libyen-Abstimmung allerdings auf krisenhafte Art und Weise herausgefordert.