Rieter-Reform
© Veit Mette

Forschungs-Fallstudien: Riester-Reform

Der Politikwissenschaftler Simon Hegelich untersucht die Rentenreform von 2001 („Riester-Reform“). Die Rentenreform von 2001 gilt aus politikwissenschaftlicher Sicht als eine der wichtigsten Reformen des deutschen Rentensystems, da sie zu einem fundamentalen Wandel in der Rentenpolitik führte (Lamping und Rüb 2006; Berner 2006; Hinrichs und Kangas 2003; Hegelich 2006a; Nullmeier 2006).

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1 Die Riester-Reform: Bedeutung und Überblick

Die Rentenreform von 2001 gilt aus politikwissenschaftlicher Sicht als eine der wichtigsten Reformen des deutschen Rentensystems, da sie zu einem fundamentalen Wandel in der Rentenpolitik führte (Lamping und Rüb 2006; Berner 2006; Hinrichs und Kangas 2003; Hegelich 2006a; Nullmeier 2006). Im Folgenden wird diese Rentenreform 2001 mithilfe des Strategietools für politische Reformprozesse (SPR) genauer betrachtet. Dafür wird der Frage nachgegangen, wie die strategiefähige Kernexekutive bezüglich des Agenda-Setting, der Politikformulierung und Entscheidung, der Politikumsetzung sowie der Erfolgskontrolle in den Dimensionen Kompetenz, Kommunikation und Durchsetzungsfähigkeit agierte.
Dieses Vorgehen ist sichtlich am Policy-Cycle orientiert (vgl. Sabatier 2007a; Schubert und Bandelow 2003; Weimer und Vining 2005). Logisch gesehen folgt jede Reform dem Ablauf von Programmanspruch, Programmumsetzung und Programmrealisierung, wobei je nach Autor unterschiedliche konkrete Teilschritte differenziert werden (vgl. Abbildung 1).
In realen Politikabläufen sind Überschneidungen der einzelnen Abschnitte unvermeidlich (Sabatier 2007b; Rihoux 2006; Ostrom 2007). Gerade in der Rentenpolitik, die mit langfristigen Problemen umgehen muss und eine sehr hohe Reformfrequenz hat, gehen z. B. die Umsetzung der vorangegangenen Reformen und das AgendaSetting ineinander über.
Die häufig als Riester-Reform titulierte Rentenreform 2001 bestand im Kern aus dem Altersvermögensgesetz (AVmG) und dem Altersvermögensergänzungsgesetz (AVmEG). Erklärtes Ziel der ReAbbildung 1: Der Policy-Cycle Quelle: Bazant, Hegelich und Kerkmann 2006: 250 form war es, »den Beitragssatz bis 2020 unter 20 Prozent und bis 2030 unter 22 Prozent zu halten« (BT-Drucksache 14/9503: 16). Dementsprechend war die Veränderung der Rentenformel hinsichtlich des Bezugs auf die Nettolohnentwicklung hier der Hauptaspekt. Eigentliches Kernstück der Reform 2001 ist der Ausbau der privaten und betrieblichen Altersvorsorge. Erstere wird durch die so genannte »Riester-Rente« gefördert.
Die damalige Bundesregierung bezeichnete die Rentenreform 2001 als die »bedeutendste, umfassendste und innovativste Reform seit 1957 [...]. Die wohl wichtigste Neuerung besteht im substanziellen Ausbau der zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge, flankiert durch eine umfangreiche staatliche Förderung« (BT-Drucksache 14/9503: 8). Durch das allmähliche Absenken des Rentenniveaus werden die zukünftigen Rentner veranlasst, sich frühzeitig um einen privaten Ausgleich in Form einer kapitalgedeckten Altersvorsorge zu kümmern. Diese Bemühungen werden durch staatliche Förderungen – entweder als Zuschuss oder als Steuerfreibetrag – unterstützt. 192 Die Rentenreform 2001 war von Beginn an massiver Kritik aus den unterschiedlichsten Richtungen ausgesetzt. Erst durch die Entwicklungen der letzten zwei Jahre, die zum Teil durch die Rentenreform 2004 bestimmt sind, stieg die Akzeptanz dieser Reform bei den politischen Akteuren.
Die folgende Tabelle zeigt den Verlauf der wichtigsten Ereignisse des Reformprozesses. Dabei wurde versucht, die einzelnen Ereignisse den Abschnitten des Policy-Cycle Agenda-Setting, Politikformulierung und Politikumsetzung zuzuordnen. Es wird deutlich, dass es sich hierbei nicht um voneinander zu trennende Phasen handelt. Die Kategorien gehen vielmehr fließend ineinander über. Quer zu den Abschnitten des Politikprozesses lassen sich zudem Ereignisse hervorheben, die für die Erfolgskontrolle des Reformprozesses maßgeblich sind.
Die im Folgenden herangezogenen Aussagen und Einschätzungen basieren auf relevanten politikwissenschaftlichen Publikationen sowie auf 15 Interviews, die im Zeitraum von August bis Oktober 2007 mit Experten und Beteiligten des Reformprozesses geführt wurden.

2 Strategiefähige Kernexekutive: Wer macht die Rentenreform?

Strategische Politik setzt die Identifizierung konkreter politischer Akteure mit unterscheidbaren Zielrichtungen voraus. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht daher die Frage nach der strategiefähigen Kernexekutive. »Das Konzept der Kernexekutive ist ebenso wie die Ansätze organisationalen Lernens nur schwer empirisch umzusetzen. Seine Stärke liegt weniger in der klaren logischen Stringenz als vielmehr in der weiten empirischen Erklärungskraft« (Bandelow 2005: 242). Um diese Erklärungskraft zur Geltung zu bringen, wird der Begriff der Kernexekutive im Folgenden sowohl inkludierend als auch exkludierend verstanden.
Mit diesem Begriff soll erstens der Tatsache Rechnung getragen werden, dass innerhalb des politisch-administrativen Systems keine einheitliche Position der unterschiedlichen Akteure zu erwarten ist. Zweitens öffnet der Begriff das Akteursset, indem der Fokus auf 193 194 195 konkrete Personen gelegt wird, die in unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen reell an der Gestaltung des Politikprozesses beteiligt sind. In dieser Konnotation ist das Konzept der Kernexekutive mit dem im Angelsächsischen verwendeten Begriff der »core executive« nahezu deckungsgleich. Allerdings muss der Kreis der konkret involvierten Personen nicht auf die ausführenden Staatsdiener beschränkt werden, sondern kann auch involvierte Experten und politische Entscheider umfassen.
Drittens wird davon ausgegangen, dass – im Gegensatz zum teilweise sehr weitgefassten Governance-Begriff (z. B. bei Janning und Toens 2008; Rosenau 1995; Trubek und Mosher 2003) – die Exekutive durch die Möglichkeit, kollektive Verbindlichkeit letzten Endes kraft ihrer Amtsautorität zu schaffen, einen besonderen Stellenwert in allen Reformprozessen innehat. Gerade im Hinblick auf die strategische Dimension politischer Entscheidungsprozesse ist dieses Element der Machtpolitik nicht zu vernachlässigen. Damit ist jedoch nicht einem Machiavellismus das Wort geredet (Radin 2000). Vielmehr ist die gewählte Exekutive die einzige Instanz, die durch den Wähler zur Ausübung dieser Funktion legitimiert ist (Böckenförde 1991; siehe auch Crouch 2004).
In Bezug auf die Riester-Reform ist festzuhalten, dass die Akteure in der Kernexekutive im Verlauf des Politikprozesses wechselten. Es gab zwar eine durchgängige Zentralisierung der Entscheidungen beim Ministerium für Arbeit und Soziales und beim Kanzleramt. Andere Akteure der Kernexekutive, wie die Fraktionsspitzen, die Oppositionsführer oder die Ministerpräsidenten, verhielten sich jedoch teilweise als Reformgegner. Das Finanzministerium unterstützte wiederum den Reformkurs – insbesondere im Hinblick auf die Politikformulierung.
Das SPR betrachtet die Parteiendemokratie, die Koalitionsdemokratie und den Föderalismus als mögliche Komponenten der Kernexekutive. 
Die wichtigsten Entscheidungen im Zuge der Rentenreform wurden ohne Frage innerhalb der Regierungsorganisation getroffen. Die zentralen Akteure waren hier das Kanzleramt und das Arbeits- und Sozialministerium, die über den gesamten Politikprozess hinweg die 196 strategischen Entscheidungen dominierten. Schon bei der Politikformulierung – noch stärker dann bei der Umsetzung – trat das Finanzministerium als entscheidender Akteur hinzu, allerdings erst nachdem Hans Eichel Finanzminister geworden war.
Die Parteiendemokratie war ebenfalls von großer Bedeutung für den Reformprozess. Hier konnte Bundeskanzler Gerhard Schröder jedoch weniger seine Partei als Machtressource einsetzen. Vielmehr gab es durch den linken Flügel in der SPD und in Gestalt der Fraktionsspitzen Ulla Schmidt und Peter Struck sehr bedeutende Reformgegner, deren Handeln in die strategischen Überlegungen miteinbezogen werden musste.
Für die Politikumsetzung war der seit dem 7. April 1999 von der Union dominierte Bundesrat sehr wichtig. Die Vetomöglichkeit hinsichtlich zustimmungspflichtiger Gesetze führte dazu, dass auch die Unionsspitze (insbesondere Horst Seehofer) in den Reformprozess eingebunden werden musste.
Erstaunlicherweise kam der Koalitionsdemokratie keine wesentliche Rolle zu. Die Grünen waren zwar an der Aushandlung des Koalitionsvertrags beteiligt, dieser war für die Rentenreform jedoch kaum von Bedeutung, da die sozialpolitischen Themen auf SPD-Seite von Rudolf Dreßler und nicht von Walter Riester ausgehandelt wurden. Darüber hinaus waren die Grünen als Koalitionspartner in der Rentenpolitik kaum wahrnehmbar.
Dies ist eventuell als relevantes Nicht-Ereignis zu werten. Immerhin lässt sich auch nach dem Ende der rot-grünen Regierung feststellen, dass die Grünen weniger für die Sozialpolitik der Regierungszeit von den Wählern verantwortlich gemacht werden als die SPD. Daher ist die Zurückhaltung der Grünen in Rentenfragen möglicherweise selbst als (durchaus erfolgreiche) Strategie zu werten. Ob dies zutrifft, lässt sich allerdings nur schwer feststellen, da keiner der aktiven Akteure das Engagement der Grünen vermisst hat.
Es stellt sich die Frage, inwieweit es gelungen ist, die Dimensionen Kompetenz, Kommunikation und Durchsetzungsfähigkeit als Erfolgsfaktoren für eine Balance von Macht- und Gestaltungszielen in der Kernexekutive zu institutionalisieren oder zumindest bei Bedarf abzurufen.

2.1 Innovationskultur in der Rentenpolitik?

In der Kompetenzdimension ist besonders auf die Personalentscheidung »Walter Riester« einzugehen. Zwar ist nicht zu übersehen, dass die Berufung Riesters auch in der Dimension Durchsetzungsfä- higkeit (nämlich des Kanzlers) ihre Bedeutung hat. Dennoch ist im Hinblick auf Kompetenz festzuhalten, dass durch die Berufung Riesters zum ersten Mal eine deutliche Verschiebung der Säulen des Rentensystems weg von der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) denkbar wurde. Bereits in seiner Funktion als stellvertretender IGMetall-Vorsitzender hatte Riester sich für eine Umstrukturierung des Rentensystems in Form der Tariffonds eingesetzt – ein Vorhaben, das er nun als Bundesminister anders entfalten konnte (Trampusch 2004a: 244).
Gleichzeitig ist jedoch festzuhalten, dass im gesamten Reformprozess sehr wenig für den Ausbau von Kompetenzen oder die Einbeziehung externer Expertise getan wurde. Auch die interne Expertise im Sozialministerium auf der Ebene der Ministerialbeamten 198 scheint für den Reformprozess nur zum Teil ausgeschöpft worden zu sein. So wird von einigen Interviewpartnern berichtet, die Ministerialbürokratie sei teilweise nicht über die Reformpläne unterrichtet gewesen und habe sich an Personen außerhalb des Ministeriums gewandt, um an Informationen über das Vorhaben des Ministers zu gelangen.
Der Grund für diese Situation ist vermutlich in der Dimension der Durchsetzungsfähigkeit zu sehen. Personalwechsel im Ministerium noch während der Legislaturperiode legen den Schluss nahe, dass nur bedingt ein Vertrauensverhältnis zwischen Minister und Bürokratie bestand. Dies würde auch durch die These eines Elitenwechsels in der Sozialpolitik gestützt (Trampusch 2004b), da ein solcher Wechsel auf der Ebene der Ministerialbürokratie nicht ohne Friktionen verläuft.
Insgesamt wurden dem Arbeitsminister relativ geringe Leadership-Kapazitäten attestiert. Riester galt als sehr verschlossen, geradezu eigenbrötlerisch. Er verstand es zwar, Informationen und Ideen aus seinem Umfeld in seine eigenen Pläne einzubeziehen und so seine Kompetenz zu erweitern, legte jedoch wenig Wert darauf, mit anderen in einen wirklichen Dialog zu treten.
Innerhalb des Kanzleramts funktionierte die Etablierung von Innovationskultur wesentlich besser. Die personellen Kompetenzen wurden durch Frank-Walter Steinmeier und Heinrich Tiemann erheblich gestärkt. Beide akzeptierten außerdem Schröders Führungsposition vollständig. Auch im Bereich der externen Expertise konnte Schröder, im Gegensatz zum Sozialministerium, durch die Einbindung von Bert Rürup und Roland Berger auf Sachverständige bauen, die wussten, dass ihre Ideen gehört wurden, und die sich daher kreativ in die Reformprozesse einbringen konnten.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass für die Thematik der Rentenpolitik innerhalb der Kernexekutive durchaus eine Innovationskultur etabliert werden konnte. Dies geschah allerdings unter der Bedingung höchster Selektivität. Die alten Sozialpolitiker wurden systematisch aus dem Politikprozess herausgedrängt, wodurch auch ihre Expertise nicht einfließen konnte. Diejenigen, die das Vertrauen des Kanzlers genossen, konnten über die neu geschaffenen Strukturen ihre Kompetenzen in die Reformpolitik einbringen.

2.2 Kommunikationskapazitäten der Kernexekutive

Es ist nicht erkennbar, dass innerhalb der Kernexekutive bewusst versucht wurde, Kommunikationskapazitäten zu stärken. Auch institutionelle Anpassungen wurden bei der Kommunikation der Kernexekutive nicht vorgenommen. Allerdings muss zwischen interner und externer Kommunikation unterschieden werden. Die interne Kommunikation wurde deutlich informalisiert. An verschiedensten Stellen spielten vertrauliche Telefonate und mehr oder minder konspirative Treffen eine entscheidende Rolle. Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass sich diese Kommunikation eigentlich nicht rekonstruieren lässt. Die Interviews legen allerdings den Schluss nahe, dass es verschiedene Kommunikationsachsen innerhalb der Kernexekutive gab, die sehr gut funktionierten.
Dazu zählt zunächst die Kommunikation zwischen Riester und dem Kanzleramt (sowohl Schröder direkt als auch Steinmeier bzw. Tiemann). Riester macht auch in seiner Autobiografie deutlich, dass er vom Zeitpunkt seiner Berufung an in engem Kontakt mit Schrö- der stand und an verschiedenen kritischen Punkten des Reformprozesses das persönliche Gespräch suchte (Riester und Carstensen 2004). Eine weitere Achse, die sehr gut funktionierte, zeigt sich zwischen Arbeits- und Finanzministerium, allerdings erst nach der Ernennung von Eichel zum Finanzminister. Es ist auffallend, wie häufig sich der Finanzminister im Vorfeld der Reform zu Fragen der Rentenversicherung äußerte (Hegelich 2006a: 245 – 247).
Der Fraktionsspitze der SPD als wichtigem Reformgegner innerhalb der Kernexekutive gelang es sehr effizient, andere Reformgegner wie die Opposition, den Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) und die Gewerkschaften ad hoc einzubeziehen, was ebenfalls für eine Informalisierung der Kommunikation spricht. Explizit ausgeschlossen aus der Kommunikation wurden der linke Flügel der SPD und die traditionellen Sozialpolitiker wie Dreßler.
Diese Annahme passt zu den Erkenntnissen von Trampusch (Trampusch 2004b) und Hering. Letzterer schreibt: »Der Verlierer dieser politischen Auseinandersetzung war der linke SPD-Flügel, der am bestehenden Rentensystem festhalten wollte: Weder konnten die traditionellen Sozialpolitiker das institutionelle Ziel der Lebensstandardsicherung verteidigen, noch waren sie in der Lage, die Einfüh200 rung der privaten Altersvorsorge zu verhindern, welche die gesetzliche Rente in Zukunft teilweise ersetzen wird« (Hering 2004: 369).
Bei der externen Kommunikation der Kernexekutive ist zunächst festzuhalten, dass die Reformgegner es besser als das Arbeitsministerium verstanden, ihre Anliegen über die Massenmedien zu kommunizieren. Dies liegt an der inhaltlichen Schwierigkeit, das angestrebte Reformziel mit einer positiven Nachricht zu verbinden. Hier zeigte sich jedoch zum Teil auch die fehlende Routine Riesters im Umgang mit der Öffentlichkeit.
Selten war ein Reformprojekt von so schlechter Presse begleitet wie die Rentenreform 2001. Riester selbst sagte in der taz: »Das mit den Medien-Coups ging am Beispiel der Pflicht-Riester-Rente so: Ein Bild-Redakteur rief an, dass morgen die Bild mit der Schlagzeile ›Zwangsrente Riester‹ aufmacht. Nur wenn ich ihm ein Exklusivinterview gäbe, würde er die für den Folgetag geplante Schlagzeile ›Wann fliegt Riester?‹ verhindern können. Und ich blöder Hund bin auch noch darauf eingegangen! Die Schlagzeile am Tag drauf lautete: ›Wutwelle rollt auf Bonn‹. Das war kaum besser« (Riester 2005).
Was die Kommunikation mit Experten und Stakeholdern anbelangt, so ist hier ebenfalls eine Informalisierung festzustellen. Gerade von Seiten des Kanzleramts wurde nur ein sehr enger Kreis an vertrauten Experten, zu denen Rürup und Berger gehörten, einbezogen. Rudolf Czada verweist auf einen Wechsel in der Kommunikation Schröders nach dem Bündnis für Arbeit: »Die rot-grüne Regierung war nach dem Scheitern des umfassenden Bündnisprojektes offenkundig um einen auf spezielle Probleme konzentrierten und offenen Stil der Konsensmobilisierung bemüht. Im Gegensatz dazu hatte Helmut Kohl sein persönliches Netzwerk, die sogenannte ›Kohl-Maschine‹ genutzt und ›Kamingespräche‹ mit Spitzenvertretern von Industrie und Arbeit geführt. Schröder schien nach seinem Wahlsieg 1998 zunächst einen ähnlichen Stil vorzuziehen, was ihm in den Medien die Bezeichnung ›Genosse der Bosse‹ einbrachte. Die schlechten Erfahrungen mit dem Bündnis für Arbeit und der abrupte Wechsel der Spitzenunternehmer in das Lager seines Herausforderers Stoiber (CSU) im Vorfeld der Wahlkampagne 2002 verletzten Schröder nach Aussagen aus seinem persönlichen Umfeld so stark, dass er seine Aufmerksamkeit wieder verstärkt auf ausgewiesene Experten aus Partei und Wissenschaft lenkte« (Czada 2004: 140). Für 201 die Rentenpolitik ist jedoch festzuhalten, dass es hier von Regierungsbeginn an eine deutliche Abkehr von den korporatistischen Strukturen gab.
Die Informalisierung der Kommunikation führte auch dazu, dass es sehr schwierig war, die Kommunikation innerhalb der Kernexekutive abzustimmen, weil nicht alle Akteure an diesem informellen Kommunikationsaustausch teilnahmen. Auch zwischen den Akteuren, die gemeinsam an der Reform arbeiteten, kam es daher zum Teil zu sehr widersprüchlichen Aussagen. So forderte Finanzminister Eichel beispielsweise, das Rentenalter müsse deutlich erhöht werden, ohne dass diese Forderung im Reformpaket des Arbeitsministers auch nur erwähnt worden wäre.
Die Informalisierung macht es jedoch auch sehr schwer nachzuvollziehen, an welcher Stelle die Abstimmung zwischen den Akteuren angestrebt wurde. Die Kommunikation nach außen blieb mehr oder minder dem Arbeitsministerium überlassen, was jedoch nicht heißen muss, dass diese Kommunikation nicht auch mit dem Kanzleramt abgestimmt wurde. Ging es um die Kommunikation innerhalb der Kernexekutive, dann schaltete sich das Kanzleramt in kritischen Fragen immer ein. Diese Arbeitsteilung legt die Vermutung nahe, dass die Abstimmung der Kommunikation besser funktionierte, als auf den ersten Blick deutlich wird.

2.4 Erfolgskontrolle: Ist die Kernexekutive lernfähig?

Nachdem nun die Stärken und Schwächen der Kernexekutive hinsichtlich ihrer Strategiefähigkeit erörtert wurden, stellt sich die Frage, welche Aspekte der Erfolgskontrolle in der Kernexekutive institutionalisiert werden konnten. Denn versteht man Evaluation als Analyse, »die darauf gerichtet [ist], die Wirkungen politischen und administrativen Handelns, insbesondere von politischen Interventionen, Programmen, Projekten oder Maßnahmen zu erfassen und zu ermitteln, ob die beobachtbaren Veränderungen – intendierte wie nicht-intendierte Wirkungen – auf die politischen Programme, Projekte usw. (oder aber auf andere Faktoren) kausal zurückzuführen seien« (Wollmann 2000: 197), so wird klar, dass die Voraussetzungen hierfür schon innerhalb der Kernexekutive angelegt sein müssen.
Dabei können zwei Aspekte als notwendige Bedingung jeder Erfolgskontrolle gelten: Klarheit über die Ziele und Exaktheit der Wirklichkeitserfassung. An dieser Stelle sind zwar nur die strategischen Ziele relevant, doch diese sind vielschichtig. In den drei analysierten Dimensionen Kompetenz, Kommunikation und Durchsetzungsfä- higkeit müssen jeweils eigene strategische Ziele innerhalb der Kernexekutive verfolgt werden. Es lässt sich also fragen, inwieweit die Bedingungen Klarheit der Ziele und Exaktheit der Wirklichkeitserfassung in den drei Dimensionen institutionalisiert wurden.
Wie lässt sich rentenpolitische Kompetenz kontrollieren?
Geht man der Frage nach, was innerhalb der Kernexekutive unternommen wurde, um zu kontrollieren, inwiefern die Rentenreform den strategischen Zielen in der Kompetenzdimension (»Innovationskultur fördern«) entsprach, so muss zunächst untersucht werden, ob der Kurs der Reform eindeutig war.
Schröder hatte hier mit der Regierungserklärung vom 10. November 1998 einen Vorstoß gewagt, an dem sich die Reform messen las204 sen musste, indem er eine dreifache Garantie abgab: »Wir werden den heute in Rente lebenden Menschen ihre Rente sichern und ihnen jedenfalls ihre ohnehin oft geringen Einkünfte nicht kürzen. Denjenigen, die heute in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, sagen wir zu, daß sie damit einen wirksamen und leistungsgerechten Rentenanspruch erwerben. Denjenigen, die jetzt ins Berufsleben eintreten, sichern wir den Umbau der Alterssicherung zu einem transparenten, zukunftsfähigen Versicherungspakt zu« (Schröder 1998). Gleichzeitig stellte Schröder aber auch klar, welchem Ziel die Rentenreform dienen sollte: »Wir wollen einen mit Leben erfüllten Generationenvertrag, keinen Vertrag zu Lasten der Arbeit« (Schröder 1998).
Die eindeutige Zielrichtung bestand darin, den Anstieg des Rentenbeitragssatzes zu verhindern. Damit war ein eindeutiger Maßstab definiert, der sowohl die prozessbegleitende Evaluation als auch die Gesamtkosten- und -nutzenrechnung bestimmte. Jeder Reformvorschlag musste sich an der Wirkung auf den Beitragssatz messen lassen.
In einem umlagefinanzierten System ist der Beitragssatz jedoch keine beliebige Größe, sondern muss das Finanzvolumen der Einnahmen der Rentenversicherung auf das gleiche Niveau heben wie die Ausgaben. Johan De Deken hat drei Dimensionen aufgezeigt, die eine umlagefinanzierte Rentenversicherung im Gleichgewicht halten muss: »In order to be sustainable, pay-as-you-go pension schemes need to maintain a balance between revenues and expenditures, these primarily being determined by three dimensions: a material, a social and a time dimension« (De Deken 2002: 278).
Diese Dimensionen, an denen sich Veränderungen bezüglich der Rentenversicherung zeigen, müssen hinsichtlich der Einnahmen und der Ausgaben in ein Gleichgewicht gebracht werden. Abbildung 3 zeigt, wie sich dieser Sachverhalt darstellen lässt.
Die Abbildung macht deutlich, dass eine Veränderung der Ausgaben der Rentenversicherung (dargestellt als Quader a’, b’, c’) notwendigerweise einhergehen muss mit einer gleichwertigen Veränderung der Einnahmen (Quader a, b, c), sofern sich die Versicherung im Gleichgewicht befindet. Der Plan, den Beitragssatz (a) trotz einer Verringerung der Beitragszahler (b) und einer Zunahme der Beitragsempfänger (b’) konstant zu halten oder sogar zu senken, lässt sich systemimmanent nur durch eine Verringerung der Renten (a’) erreichen. Denkbar ist natürlich auch die Verschiebung des Renten205 Abbildung 3: Dimensionen umlagefinanzierter Rentenversicherungen Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an De Deken 2002: 278 alters zugunsten von c gegen c’. Daran war jedoch zunächst nicht gedacht. Die Zielvorgabe steht daher im Widerspruch zur dreifachen Garantie.
Der Ausgangspunkt der Rentenreform 2001 lässt sich daher als ›Riesterparadox‹ bezeichnen: Der Beitragssatz sollte stabilisiert werden. Sofern sich die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht änderten, war dies nur durch ein Absenken des Rentenniveaus zu erreichen. Anders als bei der Einführung des demographischen Faktors sollten entsprechende Maßnahmen jedoch nicht als Sozialstaatskürzung gelten.
Die Lösung dieses Widerspruchs bestand in der Kompensation der Rentenkürzung durch den Aufbau kapitalgedeckter Elemente. Für diese Logik war es gleichgültig, auf welche Weise das Rentenniveau gesenkt oder die kapitalgedeckte Rente ausgebaut wurde. Gleichzeitig war jedoch auch klar, dass die Rentenreform 2001 aus sich heraus die aktuellen Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung nicht lösen würde. Erst durch eine Zunahme der versicherungspflichtigen Beschäftigung war mit einer umfassenden Entlastung der GRV zu rechnen.
Im Prinzip ging es darum, eine Rentenkürzung durchzusetzen, die nicht als Kürzung wahrgenommen wurde. Während also hinsichtlich des Nutzens der Reform (Beitragssatzstabilität) eine exakte 206 Erfassung der Wirklichkeit möglich war und damit auch ein geeigneter Kontrollmechanismus für die Reform zur Verfügung stand, wurden die Kosten eher in der Dimension Kommunikation gesehen. Schröder wollte als Sozialstaatserneuerer und nicht als neoliberaler Sozialstaatskürzer gelten.
Wurde eine responsive Kommunikation in der Rentenpolitik durch die Kernexekutive gewährleistet?
Es ist erstaunlich, wie wenig innerhalb der Kernexekutive offensichtlich darüber nachgedacht wurde, wie der Erfolg der externen Kommunikation überprüft werden könnte. Es lässt sich zwar nicht leugnen, dass auf die öffentliche Resonanz geschaut wurde und die Reformer im laufenden Dialog mit zentralen Stakeholdern standen, diese Kommunikation lief jedoch kaum auf eine Erfolgskontrolle hinaus. Die negativen Rückmeldungen wurden vielmehr auf die Ebene eines Kommunikationsproblems gehoben. Gerade im engsten Kreis um Walter Riester herrschte offenbar die Meinung vor, Kritikern mangele es am Verständnis des größeren Zusammenhangs. Diese Haltung drückt sich auch im Titel der Biografie von Walter Riester »Mut zur Wirklichkeit« (Riester und Carstensen 2004) aus.
Das fehlende Verständnis für Responsivität ist jedoch nur teilweise auf die mangelnde Kommunikationsbereitschaft des Arbeitsministers zurückzuführen. Folgt man Elmar Schattschneider, so besteht eine generelle Aufgabe demokratischer Führung darin, der Öffentlichkeit Alternativen des Regierens zu präsentieren. »Democracy is a competitive political system in which competing leaders and organizations define the alternatives of public policy in such a way that the public can participate in the decision-making process« (Schattschneider 1960: 138). Die Reformrhetorik der rot-grünen Regierung war hingegen – besonders in der Rentenpolitik – vom Verweis auf die Alternativlosigkeit des Reformprojektes geprägt.
Aber auch andere Akteure innerhalb der Kernexekutive, die nicht zum strategischen Machtzentrum gehörten, hätten eine Evaluation der öffentlichen Meinung zielgruppenspezifisch nutzen können. Gerade die SPD-Fraktion hat im Nachhinein sicherlich nicht davon pro207 fitiert, dass die Rentenpolitik unterm Strich zu einer wachsenden Verunsicherung der Bürger führte.
Zu Recht wird in der Politikwissenschaft immer wieder darauf verwiesen, dass gerade das Echo, das die Kommunikation der Kernexekutive in den Medien findet, die öffentliche Meinung maßgeblich beeinflusst: »The past quarter century of scholarship on public opinion has shown that citizens’ attitudes can be influenced significantly by how elites frame their communications in the mass media« (Chong und Druckman 2007: 637). Insofern hätten sich die Akteure der Kernexekutive um Mechanismen bemühen müssen, die auch positive Meldungen in Bezug auf die Rente öffentlich gemacht hätten. Wie kann die Kernexekutive rentenpolitische Handlungsspielräume wahren?
Geht man davon aus, dass Reformen dann besonders erfolgreich durchgesetzt werden, wenn die Reformer sich flexibel auf neue Situationen einstellen können, so ist zu fragen, ob innerhalb der Kernexekutive Mechanismen für ein solches flexibles Nachsteuern installiert wurden. Der Verlauf des Reformprozesses zeigt zwar, dass die Akteure in der Lage waren, die konkreten Reformvorschläge neuen strategischen Gegebenheiten anzupassen, ohne dabei den harten Kern – das Riesterparadox – aus den Augen zu verlieren. Es lässt sich jedoch nicht zeigen, dass bewusst institutionelle Vorkehrungen – wie zum Beispiel Routinen der Reformüberprüfung oder Entscheidungsregeln für den Fall einer Änderung der Reformroute – getroffen wurden.
Die beschriebene Informalisierung und Hierarchisierung der Entscheidungsstrukturen machte das strategische Machtzentrum relativ unabhängig gegenüber veränderten Akteurskonstellationen. Im Zweifelsfall vertraute man auf die Richtlinienkompetenz des Kanzleramts. Dadurch wurden allerdings wichtige Reformgegner (Gewerkschaften, VDR, SPD-Fraktion, Versicherungswirtschaft) zu wenig beachtet, was sich in der Politikformulierung und Politikumsetzung negativ bemerkbar machte.
Insgesamt erscheint die Kernexekutive in Bezug auf die Rentenreform nur bedingt lernfähig. Zumindest lassen sich wenige Hinweise darauf finden, dass dieser Aspekt bewusst gestärkt wurde. Allerdings widerspricht die politische Rhetorik der Sachzwänge, der sich sowohl Riester als auch Schröder ausgiebig bedienten, dem Verlauf des rentenpolitischen Reformprozesses, der sich durchaus flexibel an die Möglichkeiten und Anforderungen eines Reformkorridors anpasste (Hegelich 2006a). Auf die entsprechenden Anpassungen wird daher im Folgenden eingegangen.

3 Agenda-Setting: Worin besteht das Rentenproblem?

Rentenpolitik in Deutschland stellt sich als permanentes Reformkontinuum dar. Seit der Einführung der jetzigen Rentenversicherung 1957 hat sich jede Regierung mit dem deutschen Rentensystem auseinandergesetzt und Veränderungen vorgenommen. Allein im Zeitraum von 1991 bis 1996 gab es elf Gesetzesänderungen in Bezug auf das deutsche Rentensystem.
Die Rentenreform 2001 sollte zwar weitere Reformen über das Jahr 2030 hinaus unnötig werden lassen – so verkündete die Regierung in ihrem Nationalen Strategiebericht Alterssicherung 2002, dass »die jüngste Rentenreform 2001 [...] am Ende eines gesellschaftlichen Diskussionsprozesses über die demografische Entwicklung« stehe (BT-Drucksache 14/9503: 5). 2003 wurde diese Reform jedoch erneut reformiert.
Über zwei Drittel der Bundesbürger sind der Meinung, dass die Rentenreform 2003 das Rentensystem nicht wirklich stabilisiert hat und eine ernsthafte Reform notwendig ist (Börsch-Supan, Heiss und Winter 2004: 36). Dabei sollte bereits die »1989 verabschiedete Rentenreform 1992 nach Auffassung aller beteiligten Akteure für etwa zwanzig Jahre weitere Interventionen überflüssig machen« (Hinrichs 2000: 297).
Beim Agenda-Setting gibt es daher keine Stunde null. Für die Rentenreform 2001 heißt das, dass der Reformprozess in seiner Gänze über die Amtszeit der rot-grünen Regierung hinausreicht. Schon vor der Regierungsübernahme stand das Problem einer Rentenreform auf der politischen Agenda. Die SPD und die Grünen hatten die Rentenreform 1997, mit der die Kohl-Regierung den demographischen Faktor eingeführt hatte, heftig kritisiert. Der linke Flügel der SPD um Oskar Lafontaine hatte durchgesetzt, dass die Rücknahme dieser Reform zu einem Wahlkampfversprechen wurde.
Auch in der Öffentlichkeit wurde das Thema Rente breit diskutiert. Die Regierung stand also unter erheblichem Druck, in diesem Politikfeld möglichst schnell Ergebnisse zu erzielen. »Schröder [hatte] im Gegensatz zu Kohl nie die Absicht, an dem bestehenden Rentensystem festzuhalten. Im Gegenteil forderte er bereits vor seinem Amtsantritt, dass die Weichen in der Alterssicherung in Richtung Privatvorsorge gestellt werden müssen« (Hering 2004: 369).
Zwar bestand eine der ersten Handlungen der Regierung in der Rücknahme der Rentenreform von 1999, diese war jedoch mit der Kopplung der Rentenanpassung in den Jahren 2000 und 2001 an die Inflationsrate (Ruland 2001) sowie der Aufhebung der automatischen Anpassung des allgemeinen Bundeszuschusses verbunden (Hering 2004: 363). Dadurch wurden die Rentner in noch stärkerem Maße belastet als durch die Einführung des demographischen Faktors unter Kohl (Engelen-Kefer 2000a: 549).
Betrachtet man den Reformprozess chronologisch, so ist zudem festzuhalten, dass zumindest die Ende 2001 vorgenommenen Anpassungen selbst wieder in den Bereich des Agenda-Setting fallen (vgl. Tabelle 1) – allerdings hinsichtlich der Rürup-Reform.

3.1 Zukunftsthemen: demographischer Wandel und Lohnnebenkosten

Dass nach dem Regierungswechsel eine Rentenreform auf der politischen Agenda stand, war weniger die Folge einer frühzeitigen Identifizierung des Reformbedarfs als einer Kombination von Außen- und Inneninitiierung: Im Prinzip blieb der rot-grünen Regierung gar keine Wahl, sie musste das Thema Rentenreform auf die Tagesordnung setzen.
Zunächst ist festzuhalten, dass die GRV ein akutes – und angesichts der prognostizierten demographischen Entwicklung auch ein langfristiges – Finanzierungsproblem hatte. Diese Probleme der gesetzlichen Rentenversicherung, die sich vor allem aus dem Rückgang der Beitragszahlungen aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit und der geringeren Lohnabschlüsse ergaben, waren 1998 allgemein bekannt (Hegelich 2006a).
Die Problematik der demographischen Entwicklung, auf die Experten bereits Mitte der 70er Jahre verwiesen hatten, erachteten inzwischen auch politische Entscheidungsträger als relevant, wie sich nicht zuletzt am demographischen Faktor der Kohl-Regierung zeigt. Und auch die politische Deutung, der zufolge die Lohnnebenkosten ein kritischer Faktor in der Standortkonkurrenz sind, kann für das Rentensystem bereits seit der Reform von 1992 als vorherrschend betrachtet werden (Nullmeier und Rüb 1993). In allen drei Bereichen – akute Finanzlage der GRV, demographische Entwicklung und Lohnnebenkosten – herrschte also bereits die Meinung vor, dass Handlungsbedarf bestehe.
Neben dieser Außeninitiierung ist zu beachten, dass der linke Flügel der SPD um Lafontaine und Dreßler dafür gesorgt hatte, dass die Rücknahme der Rentenreform 1999 (demographischer Faktor der Regierung Kohl) ein Wahlkampfversprechen war. Insofern waren innerhalb der Kernexekutive bereits entscheidende Vorgaben gesetzt, an denen die neue Regierung nicht ohne Weiteres vorbeigehen konnte.
Das heißt jedoch nicht, dass damit auch bereits die Reformrichtung vorgegeben war. Im Gegenteil zeigte sich gerade hier der Gestaltungsspielraum des strategischen Machtzentrums innerhalb der Kernexekutive. Schon in der ersten Regierungserklärung von Schrö- der fanden sich sehr konkrete Vorgaben, in welche Richtung die Reform des Rentensystems gehen sollte.
In Bezug auf die drei Säulen des Rentensystems bemerkte er: »Das sind die gesetzliche Rentenversicherung, die betriebliche Altersvorsorge, die private Vorsorge, deren Organisation vom Staat, etwa in steuerlicher Hinsicht, ermutigt wird, und die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivkapital und an der Wertschöpfung in den Unternehmen. [...] Bei der gesetzlichen Rentenversicherung müssen wir die finanzielle Grundlage verbreitern und versicherungsfremde Leistungen staatlich finanzieren. Bei den Lebensversicherungen werden wir für mehr Wettbewerb und mehr Transparenz sorgen. Die zukunftsfähige Erneuerung der betrieblichen Altersvorsorge muß im Bündnis für Arbeit und Ausbildung fest vereinbart werden. Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen werden wir unterstützen« (Schröder 1998).
Nicht zufällig berief Gerhard Schröder mit Walter Riester einen Minister, der sich bereits in seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender der IG Metall damit beschäftigt hatte, wie die gesetzliche Rentenversicherung durch einen Ausbau der betrieblichen Renten entlastet werden könnte. Damit kam die Vorstellung einer (teilweisen) Kapitaldeckung zum ersten Mal ernsthaft in den Bereich des Denkbaren im deutschen Rentensystem – und das gerade nicht durch die als neoliberal geltenden Weltbankberater, sondern durch einen Gewerkschafter.
Die Auswahl der Person Walter Riester als Arbeits- und Sozialminister ist in der Dimension Kompetenz der entscheidende Punkt, mit dem Schröder eine bestimmte Reformrichtung vordefinierte. Denn diese personelle Entscheidung wurde bewusst gegen die Fraktion, den linken SPD-Flügel und auch gegen die SPD-nahen Gewerkschafter durchgesetzt, die laut Bekunden eines Beteiligten »lieber keinen von uns als den Riester« gehabt hätten. Die ablehnende Haltung der Gewerkschafter wird allerdings in der Darstellung eines Experten relativiert, der darauf verweist, dass die Gewerkschaftsführung erst zu einem späteren Zeitpunkt irritiert über die Linie Walter Riesters war. Offensichtlich gab es keine einheitliche gewerkschaftliche Einschätzung in Bezug auf die Person Riesters.
Diese unterschiedlichen Einschätzungen lassen sich durch die Arbeitsweise Riesters erklären. Verschiedene Interviewpartner berichteten, dass Riester externe Personen nur äußerst selektiv in seine Reformpläne einbezog. Beim Agenda-Setting drang offensichtlich sehr wenig von dem, woran im Ministerium gearbeitet wurde, nach au- ßen. So konnte es passieren, dass selbst Gewerkschafter, die im regelmäßigen Kontakt zu Riester standen, nichts über die Rentenpläne wussten.
Typisch für das Vorgehen der Schröder-Regierung in der Rentenpolitik ist, dass die Reformrichtung – Senkung der Lohnnebenkosten durch eine (teilweise) Umschichtung von der ersten Säule zur zweiten und dritten – festgelegt wurde, ohne das Problemumfeld genauer zu analysieren. Denn für die Schröder-Regierung stand zwar fest, dass der demographische Faktor nicht bestehen bleiben konnte, es fehlte jedoch an konkreten Alternativen.
Es ist bemerkenswert, dass hinsichtlich des Agenda-Setting jedoch kaum auf zusätzliche externe sozialpolitische Kompetenz zurückgegriffen wurde – zumindest nicht in Bezug auf die späteren Reforminhalte. Es gab zwar eine Reihe von externen Rentenexperten, die das Arbeits- und Sozialministerium einbezog, das Hauptthema bei diesen Gesprächen war jedoch die Reform der Hinterbliebenenversorgung.
Hinzu kam, dass in die erste Gremienarbeit zunächst nicht einmal die Vertreter des VDR einbezogen wurden. Erst später – vermutlich durch eine Intervention des Kanzleramts – wurden die Sachverständigen der Rentenversicherung integriert. Ein Grund hierfür bestand darin, dass der neue Arbeits- und Sozialminister Walter Riester insbesondere den mittelfristigen Prognosen des VDR im Vorfeld sehr skeptisch gegenüberstand. Auch wenn im Arbeits- und Sozialministerium die ersten Monate im Nachhinein als Phase des Kassensturzes bei der GRV charakterisiert wurden, ist nicht ersichtlich, dass zu dieser Zeit eine wirklich neue empirische Basis entwickelt wurde.
In der Regierungserklärung hatte Schröder angekündigt, man wolle sich am Beispiel anderer Länder orientieren. »Für den Nutzen der Reform, die wir im Grundsatz vereinbart haben, gibt es auf der ganzen Welt gute Beispiele; von denen können, von denen werden wir lernen« (Schröder 1998). Dennoch wurden externe Wissensressourcen – im Hinblick auf die wirklichen Reformvorhaben – nahezu ignoriert. Die umfangreichen Analysen über Reformprozesse in anderen Ländern wurden – wenn überhaupt – nur insofern einbezogen, als die unmittelbaren politischen Akteure der Meinung waren, bereits über genügend Wissen zu verfügen, um die Irrelevanz anderer Modelle beurteilen zu können.
Dieser Punkt, der sich unter anderem in der Ausklammerung des Weltbankmodells niederschlug, wurde in der politikwissenschaftlichen Literatur verschiedentlich hervorgehoben (Lamping und Rüb 2006). Allerdings ist dieser Aspekt dahingehend zu relativieren, dass es Gespräche zwischen dem Arbeits- und Sozialminister und Vertretern der Weltbank gab. Diese Gespräche machen zwar deutlich, dass die Vorstellungen des Sozialministers unabhängig vom Weltbankmodell entwickelt wurden, das Ministerium ließ sich jedoch anschließend von den Experten der Weltbank informieren. Deren Konzept wurde allerdings dann als ideologisch vorbelastet abgelehnt.
Zudem ist zu bedenken, dass innerhalb der SPD schon im Zuge der Mexikokrise eine Diskussion über die lateinamerikanischen Rentensysteme – insbesondere über die Rentenkrise in Chile – eingesetzt hatte. Das Argument muss daher so verstanden werden, dass externe Wissensressourcen keine Rolle spielten, obwohl sie zur Verfügung standen und auch ein Wissen über deren Existenz unterstellt werden kann. Bemerkenswerterweise scheint sich diese negative Haltung zu externen Wissensressourcen jedoch im Reformprozess nicht negativ bemerkbar zu machen.

3.2 Organisation von Reformbereitschaft für eine umfassende Reform des Rentensystems

Ein öffentliches Problembewusstsein für die Rentenreform zu schaffen, fiel der rot-grünen Regierung extrem leicht, da der Zustand des Rentensystems und die Rentenreform unter Kohl von SPD und Grü- nen bereits erfolgreich zum Wahlkampfthema gemacht wurden. Angesichts der Tatsache, dass die Regierung zunächst nicht mit eigenen Perspektiven aufwarten konnte und Riester die Rentenreform in das zweite Jahr der Regierungszeit verschob, bestand die strategische Schwierigkeit eher darin, das Thema Rente der öffentlichen Aufmerksamkeit wieder zu entziehen. Problematisch war außerdem der Verweis von Rentenexperten auf die Tatsache, dass die Renten durch die Sofortmaßnahmen der Regierung stärker sanken als durch Blüms demographischen Faktor.
Umso wichtiger war es, ein Deutungsmuster der Probleme zu etablieren, das zu der geplanten Reform passte. Die negative Ausgangslage, die die Unabdingbarkeit der Rentenreform begründen sollte, wurde fast ausschließlich an der demographischen Entwicklung festgemacht und von der Arbeitslosigkeit thematisch abgekoppelt. Auf dieser Ebene erschien es wie ein natürliches Sachgesetz, dass die Rente »so« auf Dauer nicht mehr finanzierbar sei. Diese Darstellung wurde äußerst erfolgreich in den Medien visualisiert und emotionalisiert. Insbesondere das Bild des Beitragszahlers, der 2030 die Last von zwei Rentnern zu tragen habe, wurde benutzt, um Stimmung für die Reform zu machen. Diese Darstellung ist extrem widersprüchlich, denn erstens ändert die Absenkung des Rentenniveaus gar nichts an der demographischen Entwicklung, zweitens wird damit das Bild eines Konflikts zwischen den Generationen aufgebaut, das so nicht der Realität entspricht.
Gerade im Familienzusammenhang herrscht in der Regel Solidarität, sodass die Jüngeren eine Kürzung der Renten ihrer Eltern meist nicht befürworten. Darüber hinaus zeigt gerade die Berechnung bis 2030, dass in dem Bild dieselben Personen in unterschiedlichen Rollen angesprochen werden. Es sind ja gerade die Jüngeren, die in 30 Jahren dann auf den »Beitragsschultern« der nächsten Generation sitzen.
Trotz dieser Ungereimtheiten trug das Bild von der Belastung des Beitragszahlers zur Ausbildung eines reformorientierten Deutungsmusters bei. Dies unterstützten auch die Versicherungsunternehmen, die die Lesart, das Rentensystem sei in seiner bisherigen Form nicht mehr geeignet, eine soziale Sicherung im Alter zu garantieren, sehr medienwirksam in Werbekampagnen unterstrichen.
Die Leitidee wurde der Standortdebatte entlehnt. Die öffentlich kommunizierten positiven Folgen der geplanten Rentenreform sollten in erster Linie in einer steigenden Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Standorts in der globalisierten Konkurrenz bestehen, wodurch mehr Arbeitsplätze geschaffen werden sollten. »Die langfristige Stabilisierung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, das Vertrauen in die Zukunftsfestigkeit der Rentenversicherung wiederherzustellen. Zudem leistet ein stabiler Beitragssatz einen wesentlichen Beitrag zur Begrenzung der Lohnnebenkosten und damit zur Stärkung und Sicherung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und dabei vor allem der internationalen Konkurrenzfähigkeit. Hierdurch wird eine wichtige Voraussetzung für mehr Wachstum und Beschäftigung und zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland geschaffen« (BT-Drucksache 14/9503: 27). Für die Verankerung dieser Leitidee war auch entscheidend, dass die Arbeitgeber die Betonung der Standortdebatte und die Verknüpfung mit der Rentenreform mittrugen.
Abbildung 4: Ausgaben und Beitragssätze der GRV Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de/files/5GU9H7.pdf

3.3 Erfolgsaussichten des Reformprojekts

Die Dimension der Durchsetzungsfähigkeit war beim Agenda-Setting für die Riester-Reform entscheidend, da die Erfolgsaussichten des Reformprojekts nicht nur kalkuliert, sondern geradezu organisiert wurden. Lamping und Rüb tendieren in ihrer Einschätzung des Reformprozesses sogar dazu, von einem Primat dieser Durchsetzungsfähigkeitsdimension über den gesamten Politikzyklus hinweg auszugehen, wodurch sich die Charakterisierung des »experimental law-making« ergibt (Lamping und Rüb 2006).
Zunächst ist auffällig, dass die Rentenreform – auch durch die frühe Ankündigung in der Regierungserklärung – mit großen Profilierungschancen innerhalb der SPD verbunden war. Für Schröder war die Rentenreform ein zentraler Bestandteil seiner neuen Sozialdemokratie, die den Beweis erbringen sollte, dass eine SPD-geführte Regierung in der Lage ist, den Standort Deutschland wettbewerbsfä- higer zu machen. Betrachtet man die Entwicklung des Beitragssatzes der Rentenversicherung und das Verhältnis der Ausgaben zum BIP (Abbildung 4), so wird deutlich, wie sehr der Erfolg des sozialdemokratischen Standortprogramms an die Entwicklung der Rentenversicherung gekoppelt ist.
Ein Erfolg im Politikfeld Rente wäre somit nicht nur eine Bedingung für den Erfolg der ganzen sozialpolitischen Reformlinie, sondern zugleich auch eine eindeutige Bestätigung der Schröder-Linie. Demzufolge bestanden für die Organisatoren einer entsprechenden Rentenreform große politische Profilierungschancen.
Weil jedoch der Kurs Schröders gerade in der Sozialpolitik intern sehr umstritten war, wurde die Rentenreform auch von den Gegnern der Schröder-Linie als politische Profilierungschance gesehen. Da für die große Linie der neuen Sozialdemokratie der Beweis angetreten werden musste, dass die SPD zu einer Senkung der Lohnnebenkosten in der Lage ist, war offensichtlich, dass sich an dieser Frage eine Hauptkonfliktlinie bilden würde.
Die Durchsetzungschancen für eine solche Senkung der Lohnnebenkosten stiegen durch die Idee Riesters, die Absenkung des Rentenniveaus durch den Ausbau der anderen Säulen des Rentensystems auszugleichen. Ein solcher Ausgleich durfte jedoch nicht die Entlastung der Arbeitskosten tangieren. Dieser Spagat, Einsparungen durchzusetzen und gleichzeitig nicht als Partei dazustehen, die den Sozialstaat zusammenkürzt, sollte durch die Kapitaldeckung ermöglicht werden.
Die Fokussierung auf die Kapitaldeckung eröffnete unmittelbar die Frage nach der Position der Gewerkschaften, die diesem Thema bislang wenig aufgeschlossen gegenübergestanden hatten und diesbezüglich als Vetospieler gelten mussten. Insofern war die Absteckung der Verhandlungskorridore entscheidend. Riesters ursprüngliche Idee der Tariffonds nahm auf die gewerkschaftlichen Positionen besondere Rücksicht. Die Tariffonds wären das Resultat von Tarifverhandlungen gewesen, in denen die Gewerkschaften auf die Auszahlung eines Teils der erzielten Lohnerhöhungen zugunsten des Aufbaus betrieblicher Altersvorsorgesysteme verzichtet hätten (Bäcker 2004; Engelen-Kefer 2000b). Das Arbeits- und Sozialministerium hätte dann für die Allgemeinverbindlichkeit dieser Abschlüsse gesorgt. Die Aufwertung der gewerkschaftlichen Stellung sollte ein Entgegenkommen sein, um die Gewerkschaften in den Verhandlungen zur Zustimmung zum Reformprogramm insgesamt zu bewegen.
Diese Idee scheiterte jedoch, da die Verhandlungspositionen der Gewerkschaften nicht richtig eingeschätzt wurden. Denn zum einen wurden die internen Differenzen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zu wenig berücksichtigt. Zum anderen betrachteten Teile der Kernexekutive die Aufwertung der Tarifverhandlungen, die mit einer Verbindlichkeitserklärung des Arbeitsministeriums einhergegangen wäre, kritisch. Die Absprachen des Ministeriums mit IGMetall-Chef Klaus Zwickel erwiesen sich als nicht strapazierfähig, da die Vorschläge von einzelnen DGB-Gewerkschaften torpediert wurden.
Überhaupt lässt sich feststellen, dass die Positionen der einzelnen Gewerkschaften zu Rentenfragen sehr deutliche Differenzen aufweisen. Idealtypisch kann man sagen, dass die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, deren Mitglieder häufig überdurchschnittlich hohe Löhne und Gehälter beziehen, sich sehr für die Aufrechterhaltung des Äquivalenzprinzips einsetzte. Die IG Metall (häufig unterstützt von ver.di) als große Industriegewerkschaft mit vielen Mitgliedern, die in der Regel eine durchgängige Erwerbsbiografie aufweisen, steht am ehesten für den Erhalt der GRV ein. Die IG BAU hingegen bemüht sich seit Jahren um Ergänzungen des Rentensystems, da ihre Mitglieder nur selten eine Erwerbsbiografie erreichen, die dem Ideal eines »Eckrentners« entspricht (vgl. Trampusch 2004a; Hegelich 2006a).
In dieser Situation war es besonders wichtig, ein geeignetes Gelegenheitsfenster zu nutzen. Dass sich Riester mit dem abgewandelten Reformkonzept schlussendlich durchsetzen konnte, lag nicht zuletzt an der geschickten zeitlichen Planung des Reformprozesses. Durch die Rückendeckung des Kanzleramts war es Riester gelungen, den Zeitpunkt für die Reform in das zweite Jahr der Regierung zu verlegen. Damit war erstens Zeit zur Entwicklung eines eigenständigen Konzepts gewonnen. Zweitens wurde der Versuch Dreßlers abgeblockt, die Reform in das dritte oder vierte Jahr der Regierungszeit zu verschieben. Eine solche Verschiebung galt im Ministerium als höchst problematisch, ging man doch davon aus, dass ein Jahr vor den Bundestagswahlen eine Rentenreform, die Kürzungen enthalten musste, nicht mehr durchzusetzen sei.
Dieser Zeitplan wurde sogar gesetzlich fixiert, sodass zumindest in dieser Hinsicht Planungssicherheit bestand. Vernachlässigt man die strategische Bedeutung dieser Entscheidung, so entsteht der Eindruck, die Regierung hätte »wertvolle Zeit [verschenkt und sich] um die Sanierung der Altersvorsorge herum[gedrückt], zumal sie sich wie in der Finanzpolitik in optimistische Prognosen von geringer Halbwertzeit flüchtete« (Hennecke 2004). Eine solche Darstellung lässt jedoch völlig unberücksichtigt, dass die Riester-Reform mit dem Ziel der Senkung der Lohnnebenkosten und dem Ausbau der kapitalgedeckten Säulen des Rentensystems zu einem früheren Zeitpunkt weder inhaltlich noch personell durchsetzbar gewesen wäre. Das Gelegenheitsfenster ergab sich jedoch nicht nur durch die zeitliche Planung der Reform. Verschiedene Akteure waren der Auffassung, dass die Argumentation einer Kapitaldeckung vor allem deshalb als durchsetzbar galt, weil auf die positive Entwicklung an der Börse verwiesen werden konnte. Wäre der Crash der New Economy bereits absehbar gewesen, hätten sich die Sozialdemokraten wahrscheinlich gehütet, Kapitaldeckung als den goldenen Weg zu präsentieren, durch den sich die Beiträge ohne eine Kürzung der Renten senken ließen. So stand jedoch die Entwicklung der Renten der überaus positiven Entwicklung an den Aktienmärkten gegenüber, sodass eine Kapitaldeckung auch den Sozialpolitikern einleuchtete, die sich an den Arbeitnehmerpositionen orientierten.

3.4 Erfolgskontrolle und Agenda-Setting

Betrachtet man die Erfolgskontrolle als Aktivität, die den gesamten Reformprozess begleitet, so ist es auch an dieser Stelle sinnvoll, der Frage nachzugehen, welche Mechanismen im Zuge des Agenda-Setting verankert wurden, um eine Evaluation des Reformprozesses zu gewährleisten. Da die Erfolgskriterien in den Dimensionen Kompetenz, Kommunikation und Durchsetzungsfähigkeit unterschiedlich sind, wird im Folgenden die analytische Perspektive der Reformakteure aufgezeigt, die sich im Zuge des Agenda-Setting entwickelte.
Kontrollmechanismen hinsichtlich der Zielrichtung
Bereits bei der Untersuchung der Kernexekutive musste auf die inhaltliche Ausrichtung der Akteure eingegangen werden. Unter dem Stichwort Agenda-Setting tritt nun zum generellen Ziel Schröders, durch eine Rentenreform den Standort Deutschland wettbewerbsfähiger zu machen, die Festlegung auf den Ausbau der Kapitaldeckung und die direkte Verknüpfung der Lohnnebenkosten mit der Arbeitslosigkeit.
Es stellt sich demnach die Frage, ob im Zuge des Agenda-Setting auch geeignete Evaluationstechniken ausgewählt wurden, um Erfolg und Misserfolg in diesen Bereichen zu kontrollieren. Gerade in Bezug auf die Kapitaldeckung fällt die Antwort allerdings sehr negativ aus. Es gab kein Konzept, das in irgendeiner Weise ein Verhältnis zwischen der umlagefinanzierten GRV und den kapitalgedeckten privaten und betrieblichen Rentenversicherungen definiert hätte. Diese Unbestimmtheit passte durchaus zur Ausgangslage des »Riesterparadoxes«. Wenn die Einschnitte bei der GRV nicht als Kürzungen wahrgenommen werden sollten, dann war es vorteilhaft, sich nicht auf ein genaues Verhältnis festzulegen. Eine prozessbegleitende Evaluation war damit allerdings nahezu unmöglich.
Die Verknüpfung von Lohnnebenkosten als Beschäftigungshindernis und den Rentenbeiträgen entzieht sich ebenfalls einer systematischen Evaluation. Eine Verringerung der Beiträge zur GRV verschärft die Finanzierungsschwierigkeiten, wodurch starker Druck entsteht, die Renten zu kürzen. Außerdem bedeutet eine Senkung der Beiträge, dass jedes bestehende Beschäftigungsverhältnis zu geringeren Einnahmen in der GRV führt. Selbst wenn also über eine Senkung der Beiträge Beschäftigung entsteht – und hier gibt es keinen notwendig kausalen Zusammenhang, da die Lohnnebenkosten eben nur eine Bedingung für die Kalkulation der Unternehmen sind –, müsste dieser Beschäftigungseffekt die verminderten Einnahmen überkompensieren.
In der Rentenversicherung kommt hinzu, dass eine Zunahme der Beschäftigung – wenn sie denn erreicht würde – auch zu einer Zunahme der Rentenansprüche führen würde, sodass die kurzfristige Stabilisierung des Rentensystems zu einer Verschärfung der demographisch bedingten Problemlage führen könnte. Diese komplizierten Wechselwirkungen wurden anscheinend von den politischen Akteuren ignoriert, wodurch auch eine Bewertung von Gesamtkosten und -nutzen erheblich erschwert wurde.
Erfolgskontrolle der Kommunikation des Agenda-Setting Die Analyse der öffentlichen Resonanz gestaltete sich im Hinblick auf das Agenda-Setting extrem schwierig. Hauptgrund hierfür war, dass kaum konkrete Reformmodelle entwickelt wurden. Insofern ließ sich die Öffentlichkeit nur schwer einbeziehen. Obwohl gerade die Medien an Meldungen zur Rentenpolitik sehr interessiert waren – die Frage der Aufhebung des demographischen Faktors wurde als erster Test für die Glaubwürdigkeit der Schröder-Regierung begriffen –, ließ sich dieses Interesse kaum ausnutzen, da von Regierungsseite keine konkreten Aussagen getroffen werden konnten. Etwas besser funktionierte die Einbeziehung von Stakeholdern. Zumindest die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände fühlten sich durch die bestehenden Kontakte des Sozialministers zu den Verbandsspitzen durchaus ausreichend informiert. Dieses positive Kommunikationsklima trifft jedoch nicht auf den VDR zu. Hier wurden keine Versuche unternommen, den Verband frühzeitig einzubeziehen. Ein Grund hierfür kann eventuell darin gesehen werden, dass Riester die gesamte Arbeitsebene, von der Ministerialbürokratie bis hin zu den Sozialverbänden, aus der Entwicklung von neuen Ideen ausschloss, was bei den entsprechenden Akteuren den Eindruck einer chaotischen Arbeitsweise des Ministeriums erweckte.
Responsivität in Bezug auf die Parteibasis wurde vom Kanzleramt beim Agenda-Setting bewusst vermieden. Hier waren die innerparteilichen Konflikte offenbar zu groß und damit die Reaktion der Basis zu riskant. Der Hauptgrund hierfür war die Dreiteilung der relevanten Akteure, die kaum kommunikativ überbrückt werden konnte. Maßgeblich war, dass Walter Riester nicht zum Kreis der Leute gehörte, die in der SPD bisher für die Sozialpolitik zuständig waren. Diese alteingesessenen Sozialpolitiker um Dreßler gehörten allerdings in erster Linie dem linken Flügel um Lafontaine an, der einen mehr oder minder offenen Machtkampf mit Schröder führte. Insofern war das Arbeitsministerium zunächst von seinem eigenen Unterbau isoliert.
Hinzu kam, dass die Fraktionsspitze um Ulla Schmidt und Peter Struck ebenfalls Einfluss auf die Ausrichtung der Sozialpolitik beanspruchte und sich in die Verhandlungen um den Koalitionsvertrag einbrachte. Wesentliche Teile der internen Kommunikation konnten daher nur über das Kanzleramt oder zumindest auf der Basis der Rückendeckung durch den Kanzler abgewickelt werden. Vor diesem Hintergrund wurde die Parteibasis möglichst umgangen. Dadurch hatte man sich allerdings auch die Möglichkeit genommen, die Wirkung der Rentenpolitik auf die Basis zu überprüfen und gegebenenfalls den Kurs zu korrigieren.
Handlungsspielräume der Rentenreform beim Agenda-Setting Das strategische Machtzentrum achtete im Zuge des Agenda-Setting sehr darauf, Handlungsspielräume zu erhalten, um ein flexibles Nachsteuern zu ermöglichen. So war die Rücknahme des demographischen Faktors mit Einschnitten in das Rentensystem verbunden, die nur vorläufigen Charakter haben sollten. Gleichzeitig stand die Regierung aber auch nicht unter Druck, diese Veränderungen tatsächlich wieder zurückzunehmen. Hier konnte auf die anstehende Rentenreform verwiesen werden, durch die das Rentensystem langfristig stabilisiert werden sollte.
Die Kombination, einerseits eine Rentenreform als großes politisches Ziel der Legislaturperiode auszugeben, jedoch andererseits die Umsetzung dieses Plans in die zweite Hälfte der Regierungszeit zu verlagern, führte zu einer Situation, in der ohne großen politischen Druck an Reformkonzepten gearbeitet werden konnte. Gleichzeitig hatte das strategische Machtzentrum die Möglichkeit, auf eine Veränderung der Akteurskonstellation zu warten.
Es ist durchaus denkbar, dass die Rentenreform nicht unter RotGrün stattgefunden hätte, wenn nicht der Machtkampf innerhalb der SPD zuvor entschieden gewesen wäre. Da die Handlungsspielräume jedoch durch eine abwartende Haltung entstanden und nicht gezielt strategisch geplant waren, gelang es dem Machtzentrum kaum, diese Spielräume für sich zu nutzen. Dies machte sich besonders bei der Politikformulierung bemerkbar.

4 Riester-Rente statt Tariffonds: Politikformulierung in der Rentenpolitik

Im Frühjahr 1999 war klar, dass die bislang vom Arbeitsminister favorisierte Idee der Tariffonds definitiv nicht in der geplanten Form durchsetzbar sein würde (vgl. Tabelle 1). Zunächst hatte Riester noch im Bündnis für Arbeit für die Fondsidee geworben, unter anderem mit dem Argument, dass dadurch Investivkapital bereitgestellt würde. Handwerkspräsident Dieter Philipp begrüßte diese Argumentation ausdrücklich und lobte den Minister für die Idee, »das Geld der Werktätigen dem Kapitalmarkt zur Verfügung zu stellen« (Philipp, zitiert nach Daniels 1998). Das Hauptproblem lag bei den Gewerkschaften, die ihre Zustimmung zur Tariffondsidee an die »Rente mit 60« koppelten, die wiederum von Schröder als nicht finanzierbar abgetan worden war (»Rente mit 60« 1999).
Das Scheitern der Tariffondsidee musste durch ein neues Konzept aufgefangen werden. So entstand die Idee der staatlichen Förderung einer privaten Altersvorsorge – die eigentliche Riester-Rente. Dabei wurde jedoch an den strategischen Reformzielen festgehalten. Der Beitragssatz sollte auf Kosten des Rentenniveaus langfristig stabilisiert und die so entstehende Lücke durch kapitalgedeckte Systeme aufgefangen werden. Dafür kam sowohl die private als auch die betriebliche Altersvorsorge in Betracht.

4.1 Von den Eckpunkten der Rentenreform unvermittelt zum Gesetzentwurf

Auch bei der Politikformulierung scheint die Kompetenzdimension wenig ausgeprägt zu sein. In Hinblick auf die Handlungsoptionen ist auffällig, dass sich das Ministerium – nachdem die Tariffonds nicht weiterverfolgt wurden – relativ schnell auf den Ausbau der dritten (und nur sekundär der zweiten) Säule fokussierte. Anscheinend wurden auch keine anderen Modelle entwickelt.
Durch diesen Schwenk näherte sich der Arbeitsminister der ursprünglichen Position des Kanzlers an. Die Reform der betrieblichen Altersvorsorge wurde zwar auch weiterverfolgt, jedoch nicht mehr mit der Zielrichtung, hier den Ausgleich für die Absenkung des Rentenniveaus zu organisieren. Stattdessen sah man in der zweiten Säule nun eine mögliche zusätzliche Aufstockung privater Renten.
Durch die Festlegung auf die Entgeltumwandlung hoffte man zudem, die Lohnkosten zu verringern.
Obwohl der Blick in andere Länder, den Schröder in seiner Regierungserklärung angekündigt hatte (Schröder 1998), eine Vielzahl an Modellen gezeigt hätte, in denen die betriebliche Altersvorsorge tatsächlich eine tragende Rolle im Rentensystem spielt (vgl. Schubert, Hegelich und Bazant 2008), wurde entsprechendes Expertenwissen nicht in die Sondierung der Handlungsoptionen einbezogen. In diesem Zusammenhang ist auch die These von Martin Hering zu relativieren, der Ausbau der zweiten und dritten Säule sei darauf berechnet gewesen, Sozialleistungen aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt herauszurechnen (Hering 2005). Ein solcher Effekt war den beteiligten Akteuren anscheinend nicht bewusst (vgl. auch Lamping und Rüb 2006).
Das Ministerium verließ sich bei der Politikformulierung beinahe ausschließlich auf die eigenen Kompetenzen. Die Zusammenarbeit mit dem VDR wurde zwar im Vergleich zum Agenda-Setting intensiviert. So wurden für die Bewertung von Lösungsalternativen selbstverständlich die einzelnen Reformaspekte auch in Bezug auf ihre mittel- und langfristigen Effekte überprüft. Dabei ging es jedoch eher darum, den vom Ministerium eingeschlagenen Weg empirisch zu untermauern. Neue Ansätze wurden nicht verfolgt.
Dieser Eindruck wird auch dadurch bestätigt, dass das Thema Nachhaltigkeit erst mit der Rürup-Kommission in der Ministerialbürokratie auf Gehör stieß. Während der Politikformulierung der Riester-Reform stand hingegen ein möglicher Ausgleich über die Schwankungsreserve im Mittelpunkt der Expertise der Ministerialbü- rokratie. Damit wurden die Handlungsoptionen auf rein kurzfristige Maßnahmen beschränkt. Abbildung 5 zeigt, dass im Jahr 1999 der Spielraum, über die Rücklagen der GRV Einfluss auf die Entwicklung des Rentensystems zu nehmen, durch die frühere Rentenpolitik bereits nahezu ausgeschöpft war.
Die Fokussierung auf kurzfristige Effekte zeigt sich auch am Fehlen eines Reformfahrplans. Mit der Rentenreform 2001 sollten weitere Reformen bis 2030 überflüssig werden (BT-Drucksache 14/9503). Anders als beim Agenda-Setting wirkte sich die geringe Gewichtung Abbildung 5: Rücklagen der GRV Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Bundeszentrale für Politische Bildung, www.bpb.de/files/BTT3DZ.pdf der externen Kompetenz bei der Politikformulierung negativ aus. Denn die Alternative, die der VDR zum Ausgleichsfaktor von Riester präsentieren konnte, überzeugte nicht zuletzt durch Kompetenz. Sogar das Arbeits- und Sozialministerium musste nach einer Prüfung des VDR-Modells, die auf Drängen der SPD-Fraktion eingeleitet wurde, eingestehen, dass dieser Vorschlag mindestens genauso gut finanzierbar war und zudem die entstehenden Lasten besser auf die Generationen verteilte. Dabei ist jedoch nicht außer Acht zu lassen, dass das Kippen des Ausgleichsfaktors erst durch einen internen Machtkampf ermöglicht wurde, auf den in der Dimension Durchsetzungsfähigkeit eingegangen wird.

4.2 Rentenpolitisches Kommunikationsdilemma: zwischen Rentenlücke und Rentenlüge

SPD und Grüne hatten sich im Wahlkampf aktiv daran beteiligt, das Misstrauen in das Rentensystem zu stärken, indem sie den ehemaligen Arbeitsminister Norbert Blüm mit seiner Aussage »Die Renten sind sicher!« vorgeführt hatten. In der Dimension Kommunikation war es deshalb sehr schwierig für die beteiligten Akteure, Vertrauen aufzubauen.
Mithilfe des Bildes der Versorgungslücke versuchte das Arbeitsministerium, den Bürgern die Notwendigkeit einer Zusatzversorgung für das Alter klarzumachen und für die staatliche Förderung der privaten Renten zu werben. Diese negative Reformsprache, die realistische Erwartungen bei den Bürgern erzeugen sollte, wirkte nicht sehr vertrauensstiftend. Zudem wurde dieses Bild von den Versicherungsunternehmen in einer Art aufgegriffen, die sich negativ gegen die Riester-Reform wandte. In Werbungen und Pressekampagnen verbreiteten die Versicherer den Eindruck, dass die aufgetretene Lücke durch die Riester-Rente allein nicht zu schließen sei, weswegen sie ihren Kunden zu zusätzlichen Finanzprodukten rieten.
Die Versicherungsunternehmen schafften es außerdem, den Eindruck medial zu verankern, die Riester-Rente sei allgemein zu bürokratisch. Obwohl damit – wenn überhaupt – nur die Versicherungsunternehmen bei der Zertifizierung von Riester-Produkten behindert wurden, teilte die Öffentlichkeit diese Meinung in weiten Teilen. Zudem gelang es dem Arbeitsminister nicht durchgängig, Glaubwürdigkeit zu vermitteln. So ließ Riester in Regierungskreisen verlauten, er würde den Etat seines Ressorts drastisch kürzen, um die Einsparungen zu erreichen, die der Finanzminister zur Stabilisierung des Bundeshaushalts benötigte. »Der Spiegel« machte daraus die Meldung, Riester wolle das Wahlversprechen brechen und die Renten noch stärker als die Unionsregierung kürzen, wobei der Aspekt der staatlichen Förderung der privaten oder betrieblichen Rente unter den Tisch fiel.
Das größte Problem bestand allerdings darin, dass völlig versäumt wurde, einen Dialog mit den Beteiligten – sowohl auf politischer Ebene als auch mit der Öffentlichkeit – zu entwickeln. Riester verzichtete völlig darauf, den Gesetzentwurf, an dem sein Ministerium arbeitete, mit anderen Akteuren zu diskutieren. »Der Spiegel« malte daraus genüsslich ein Gemälde einer völlig dilettantischen Regierungsarbeit: »Daß gleichwohl die Abstimmung einer Strategie für die öffentliche Präsentation fehlschlug, lag nicht zuletzt an Riester selbst. Der hielt alles geheim. Ein Kabinettskollege, der als einer der ersten die vollständigen Rentenpläne eingesehen hatte, war entsetzt über das Konzept: ›Mensch Walter, das kannst du doch nicht so machen.‹ [...] Die meisten Parlamentarier erfuhren die Details erst aus den Medien. Riester hatte am Dienstag Nachmittag eine kleine Journalistenrunde ins Ministerium geladen, um seine Pläne zu erläutern – in der Hoffnung auf eine verständnisvolle Presse« (Knaup et al. 1999: 23). Diese Darstellung der Regierungstätigkeit als »stümperhaft« übersieht allerdings, dass es gute Gründe in der Dimension der Durchsetzungsfähigkeit gab, warum das strategische Machtzentrum weitgehend darauf verzichtete, einen Dialog mit anderen Akteuren der Kernexekutive zu suchen.
Als einzig positiver Faktor in der Dimension Kommunikation ist für die Politikformulierung höchstens hervorzuheben, dass sich durch einen Personalwechsel im Ministerium das Klima zum VDR wieder verbesserte. Riester beurlaubte den Unterabteilungsleiter Thomas Ebert und setzte stattdessen Georg Recht ein (»Riester schasst wichtigen Rentenexperten« 2000). Recht galt – anders als Ebert – im VDR als zuverlässiger und solider Gesprächspartner. Die Beurlaubung mit sofortiger Wirkung legt nahe, dass es sich bei der Auseinandersetzung zwischen Ebert und Riester nicht um ein allein sachlich begründetes Zerwürfnis handelte. Zudem versuchte Riester durch einen Beitrag im »Vorwärts«, die SPD auf seine Linie zu bringen.

4.3 Die Rentenreform wird »durchgedrückt«

Das strategische Machtzentrum der Kernexekutive hatte sich bei der Formulierung und Durchsetzung der Rentenreform für eine Verhandlungsstrategie entschieden, die hauptsächlich auf Konflikt beruhte. Dieses Vorgehen war insofern erfolgreich, als die Rentenreform durchgedrückt werden konnte. Es verursachte allerdings hohe Kosten in Bezug auf die politischen Mehrheiten für weitere Reformprojekte und schwächte den öffentlichen Rückhalt.
Um die Wahl der Verhandlungsstrategie zu verstehen, muss bedacht werden, dass sich der Arbeitsminister in keiner Weise des Rückhalts der Kernexekutive sicher sein konnte. Schon die Präsentation des von ihm erarbeiteten Reformkonzepts war von offen ausgetragenen Konflikten begleitet. »Der Spiegel« berichtete über die Vorstellung der Rentenpläne im Kabinett süffisant: »Riester hatte den Job satt und war den Tränen nahe. Während er noch über sein Rentenkonzept referierte, wurde eine Agenturmeldung hereingereicht: Die Zwangsabgabe für die private Vorsorge solle doch nicht kommen.
Darauf hätten sich die Fraktionschefs Peter Struck (SPD) und Rezzo Schlauch (Grüne) und Schröder angeblich geeinigt. Tatsächlich war das in der Dreierrunde von Fraktionschefs und Kanzler morgens gar nicht beschlossen worden. ›Aber alle drei waren sich einig, daß es so nicht geht‹, sagt einer der Beteiligten. Nun vermuten viele eine Intrige aus dem Kanzleramt« (Knaup et al. 1999: 23).
Dass das Kanzleramt Riesters Pläne bewusst sabotierte, ist allerdings eher unwahrscheinlich. Immerhin berichtete »Der Spiegel« selbst, dass Joschka Fischer von Schröder beauftragt wurde, das Querschießen seiner Partei zu verhindern. »Außenminister Joschka Fischer war inzwischen wieder als Pendeldiplomat unterwegs. Diesmal allerdings zwischen Kanzleramt und eigener Fraktion. Ein wütender Schröder hatte den Ober-Grünen Mittwoch abend einbestellt, weil MitFraktionschefin Kerstin Müller einmal mehr ihren Oppositionsreflexen nachgegeben und die Riester-Reform als ›reine Sparorgie‹ gegei- ßelt hatte, obgleich der Schwenk zur kapitalgedeckten Altersvorsorge ganz im Sinne des Grünen-Programms ist« (Knaup et al. 1999: 23). Der Fall ist daher so zu deuten, dass Arbeitsminister und Kanzleramt zunächst auf unterschiedliche Verhandlungsstrategien setzten: Während Riester Teile der Kernexekutive umging, weil er Beschädigungen seines Konzepts fürchtete, versuchte Schröder zu dieser Zeit noch, Bündnispartner zu sammeln, um die offen zutage tretenden Konflikte kontrollieren zu können.
Die nächsten Etappen im Prozess der Politikformulierung waren die (vorläufige) Einigung mit der Union, das Kippen des Ausgleichsfaktors und die Durchsetzung der Entgeltumwandlung, die mit der Abkehr vom Prinzip der paritätischen Finanzierung einherging. Damit die Reform durch den Bundesrat gehen konnte, brauchte Riester die Zustimmung der Union. Dazu führte er Verhandlungen mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Seehofer. Im Kern war diese Auseinandersetzung konfliktorientiert, da es in der Parteienkonkurrenz darum ging, als kompetenter Reformer des Rentensystems wahrgenommen zu werden. Formell setzten jedoch sowohl Riester als auch Seehofer auf konsensorientierte Strategien.
Generell konnte die CDU/CSU der Reform durchaus einiges abgewinnen. Nachdem man den Wahlerfolg von Rot-Grün zum Teil auch auf die Kampagne gegen die Rentenkürzungen zurückgeführt hatte, ging es der Union in den Verhandlungen mit dem Arbeitsund Sozialministerium darum, ihr soziales Gewissen hervorzuheben. Gleichzeitig sollte die Reform mit ihren Einschnitten jedoch nicht an der Union scheitern. Der Ausweg aus diesem Dilemma bestand für Seehofer darin, eine stärkere staatliche Förderung der privaten Rente zu fordern.
Er ließ verlauten, bei der Rentenreform solle man »finanziell klotzen und nicht kleckern« (»Annäherung zwischen Regierung und Opposition« 2000). Auf diese Weise wurde insbesondere den jüngeren Wählern suggeriert, die Union setze sich dafür ein, dass sie von der Reform profitieren würden. Die SPD wurde durch diese Strategie erheblich unter Druck gesetzt. Egal wie weit man sich in der Frage der staatlichen Förderung auf die Union zubewegte, Seehofer konnte immer für seine Fraktion beanspruchen, dass man gerne noch mehr Förderung erreicht hätte, sodass die SPD den »Schwarzen Peter« behielt.
Um auf dem Rentengipfel am 13. Juni 2000 eine Einigung zu erzielen und gleichzeitig der Taktik der Union etwas entgegenzusetzen, konterte Riester in Absprache mit Finanzminister Eichel und Bundeskanzler Schröder und bot der Union eine wesentlich höhere Förderung der privaten Vorsorge an, als diese gefordert hatte. So kam es in der Parteienkonkurrenz zu so etwas wie einer Kompensation. Union und SPD konnten sich als politische Kräfte präsentieren, die sich beide für die sozialen Belange der Bürger einsetzten. Damit diese Sichtweise funktionierte, mussten jedoch auch alle Parteien die Einschnitte bei der GRV als unabdingbar darstellen. Somit konnte die Schröder-Regierung ihre Diskurshoheit ausbauen, die auf der Darstellung basierte, dass Kürzungen im Sozialstaat, die von einer SPD-Regierung durchgesetzt werden, unvermeidlich sein müssen (Hegelich und Meyer 2008). Die Auseinandersetzung zwischen Seehofer und Riester ist wohl auch einer der wichtigsten Gründe dafür, dass sich der Hauptfokus der Reform von der zweiten zur dritten Säule verschoben hat.
Wichtig für diesen Schritt war die Unterstützung durch das Kanzleramt und das Finanzministerium. Zwar gab es das erklärte Ziel des neuen Finanzministers Eichel, den Haushalt zu sanieren. Anders als zum Teil dargestellt (z. B. in Hegelich 2006a) ist dies jedoch nicht als Druck des Finanzministeriums auf das Arbeits- und Sozialministerium zu deuten. Umgekehrt scheint es, dass Riester die Einsparungen in seinem Ressort selbst vorgeschlagen hat, um seine Position durch die Rückendeckung des Finanzministeriums zu stärken. Auf dieser Basis sah der Finanzminister auch den nötigen Spielraum, um die staatliche Förderung auszubauen. Zu dieser Politik passt auch, dass das Finanzministerium unter Eichel die Rentenpläne durch Steuerreformen (bzw. die Ankündigung entsprechender Maßnahmen) unterstützte.
Weniger erfolgreich für Riester verlief der Reformprozess in Bezug auf den Ausgleichsfaktor. Hier setzte Riester ganz auf Konflikt, aber es gelang ihm nicht, die nötigen Bündnispartner zu gewinnen. Im Gegenteil, durch seinen Vorstoß brachte er wichtige Akteure der Kernexekutive gegen sich auf. Der Ausgleichsfaktor sollte das Rentenniveau sukzessive senken und damit den Anteil der zweiten und dritten Säule stärken. Hier war es hauptsächlich die eigene Partei, die Riester ein Bein stellte.
Die Fraktionsspitze der SPD nahm unter der Regie von Ulla Schmidt eigenständig Verhandlungen mit den Gewerkschaften auf. Die Gewerkschaften waren gegen die geplante Absenkung des Rentenniveaus auf 64 Prozent und machten diese Kritik vor allem am Ausgleichsfaktor fest. Zudem konnte die Fraktionsführung auch den VDR auf ihre Seite ziehen, der im Ausgleichsfaktor eine ungerechte Belastung der zukünftigen Rentner sah. Auch die Union – insbesondere Seehofer – sah im Ausgleichsfaktor eine Gelegenheit, gegen die Riester-Reform zu punkten.
Offensichtlich hatte Schmidt die Aufnahme von Verhandlungen mit den Gewerkschaften gründlich geplant. Denn die Initiative begann zu einem Zeitpunkt, da Riester sich gerade auf einer Reise nach Australien befand, um dort ein Sozialabkommen zu unterzeichnen. Insider sprechen deswegen auch vom »Down-under-Effekt« – eine Wortschöpfung, die deutlich macht, welche Wellen die Aktion schlug. Zudem hatte das Arbeits- und Sozialministerium bereits Plä- ne entwickelt, mit deren Hilfe die Gewerkschaften für den Ausgleichsfaktor gewonnen werden sollten.
Die Einwände gegen den Ausgleichsfaktor mögen auf die unterschiedlichsten politischen Kalkulationen zurückzuführen sein. Alle Akteure jedoch – die SPD-Fraktion, die Union und die Gewerkschaften – konnten sich hinter der Position des VDR vereinigen, der mit seinem Gegenentwurf auf die überlegene Kompetenz hinsichtlich der mittelfristigen Berechnungen verweisen konnte. Die Reformgegner – und nicht die Regierung – konnten sich also öffentlichen Rückhalt für ihre Positionen sichern.
Das Kippen des Ausgleichsfaktors kann nicht anders als eine schwerwiegende Beschädigung Riesters gewertet werden. Der einzige Ausweg, um eine völlige Demontage zu verhindern, bestand darin, dass auch das Kanzleramt verstärkt auf Konflikt als Verhandlungsstrategie setzte. Bundeskanzler Schröder und Kanzleramtsminister Steinmeier waren über das Vorgehen der Fraktion wenig erfreut und sicherten Riester Unterstützung zu. Der Ausgleichsfaktor war dadurch zwar nicht zu retten, das Kanzleramt sorgte jedoch dafür, dass Riester trotz dieser Niederlage im Amt blieb. Nicht unerheblich für die Unterstützung dürfte auch gewesen sein, dass die Regierung durch die Rücktritte der Minister Oskar Lafontaine, Reinhard Klimmt und Michael Naumann bereits stark belastet war. Da der Kanzler sich persönlich in die Rentenfrage einschaltete, kam es auch zu einer (vorläufigen) Einigung mit den Gewerkschaften, die bei einem Adventsessen mit Schröder und Riester ihre generelle Zustimmung zur Reform signalisierten. Der Kompromiss bestand darin, dass offiziell am Rentenniveau von 67 Prozent festgehalten wurde, die Gewerkschaften jedoch gleichzeitig der Festschreibung des Beitragssatzes auf höchstens 22 Prozent zustimmten. Damit wurde der grundsätzliche Wechsel von der Lebensstandardsicherung zur Beitragssatzsicherung mitgetragen.
Die konfliktgeprägte Verhandlungsstrategie setzte sich auch bei der Frage der Entgeltumwandlung bei der betrieblichen Altersvorsorge fort. Hier unterstützte das Arbeits- und Sozialministerium die Vorstellungen der Arbeitgeber (Hegelich 2006b). Insbesondere die Abkehr vom Prinzip der paritätischen Finanzierung war mit den Leitgedanken der Riester-Reform sehr gut vereinbar, da es um die Senkung der Lohnnebenkosten ging. Dass sich das Ministerium so deutlich auf die Seite der Arbeitgeber schlug, muss aus strategischer Sicht auch als Versuch gewertet werden, die kritische Position der Gewerkschaften zu schwächen. Offensichtlich ging es weniger darum, einen Konsens herzustellen, als vielmehr durch Konflikte die Gegenpositionen zu desavouieren.
Um die Rentenreform 2001 umsetzen zu können, musste das Reformpaket noch von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden. Dieser Prozess gestaltete sich sehr schwierig, da die Reform nach wie vor sehr umstritten war. Insbesondere die Union war nicht bereit, die Rentenreform mitzutragen, sie wollte die Rente vielmehr als Wahlkampfthema nutzen. In diesem Punkt hatte sich Edmund Stoiber gegen CDU-Chefin Angela Merkel durchgesetzt (»SPD-Fraktion will Riesters Konzept ändern« 2000: 6).
Um für die Reform eine Mehrheit zu bekommen, spaltete die Regierung das Reformpaket in zwei Gesetze auf, das zustimmungspflichtige Altersvermögensgesetz (AVmG) und das zustimmungsfreie Altersvermögensergänzungsgesetz (AVmEG), das bereits am 26. Januar 2001 gegen die Stimmen der Oppositionsparteien im Bundestag verabschiedet wurde. Das AVmG wurde zwar am 16. Februar 2001 zunächst im Bundesrat an den Vermittlungsausschuss zurückverwiesen, nach Verhandlungen und gezielten Zugeständnissen an einige Länder konnte die Reform dann jedoch gegen die Stimmen der unionsgeführten Länder verabschiedet werden. »Durch die im Vermittlungsausschuss erzielte Einigung der Förderung von Wohneigentum war auch Rheinland-Pfalz (rot-gelb) für eine Zustimmung gewonnen worden. Die Mehrheit im Bundesrat kam schließlich durch die Zusage des Kanzlers an Berlin zustande, die zur Durchführung der Förderung zu schaffende ›Zentrale Stelle‹ in Berlin anzusiedeln« (Heimpel 2003: 72).
Allen Beteiligten war klar, dass eine Blockade des AVmG zu einer völlig inkonsistenten institutionellen Situation in der Rentenpolitik geführt hätte, da das AVmEG ja bereits in Kraft getreten war. Auch wenn durch diese auf Konflikt ausgerichtete Verhandlungsstrategie der Rückhalt in der Öffentlichkeit für die Reform deutlich abnahm, gelang es auf diese Weise, die Riester-Rente durchzusetzen.
4.4 Erfolgskontrolle: das Rentenreformpaket auf dem Prüfstand Auch in Hinblick auf die Politikformulierung und Entscheidung stellt sich die Frage, welche Maßnahmen ergriffen wurden, um eine Erfolgskontrolle des Reformprozesses zu ermöglichen. Hier wird besonders deutlich, dass die Evaluation des Reformprozesses über die Phasen des Policy-Cycle (vgl. Abbildung 1) hinausgeht. Gerade die Festlegung des Reforminhalts muss erstens die Zielvorgaben berücksichtigen, die im Zuge des Agenda-Setting entscheidend waren, und dabei zweitens möglichst konkrete Kriterien finden und im Reformwerk formulieren, an denen der Erfolg der Umsetzung evaluiert werden kann. Dabei sind aus strategischer Sicht erneut die drei Dimensionen Kompetenz, Kommunikation und Durchsetzungsfähigkeit zu berücksichtigen.
Reformformulierung wider besseres Wissen? Die Formulierung der Rentenreform 2001 verlief mehr oder minder hinter den verschlossenen Türen des Arbeitsministeriums. Mit Ausnahme der Einbeziehung des Rentenexperten Rürup – die in erster Linie auf der Ebene des Kanzleramts stattfand – blieb daher auch die systematische Konsultation externer Expertise auf ein Maß beschränkt, das für Rentenreformen sehr ungewöhnlich ist.
Zwar wurde auch bei der Rentenreform 2001 nicht auf die Anhö- rung der Rentenexperten der Sozialpartner und der Selbstverwaltung verzichtet. Deren Stellungnahmen hatten jedoch wenig Einfluss auf die Gestaltung der Reform. Selbst der Sozialbeirat war nicht in den eigentlichen Reformprozess integriert, was das Sondergutachten (BT-Drucksache 14/5394) auch in den gewählten Formulierungen deutlich macht. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, dass auf eine prozessbegleitende Evaluation weitgehend verzichtet wurde. Auch die Berechnungen des Arbeitsministeriums wurden von den meisten Rentenexperten stark angezweifelt. Vor diesem Hintergrund beantragte die Opposition später sogar die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses.
Besonders deutlich wird die Vernachlässigung der Kompetenzdimension hinsichtlich des Obligatoriums. Das strategische Machtzentrum ging davon aus, dass die private Rente nur dann in genügendem Umfang wahrgenommen werden würde, wenn man sie verpflichtend gestaltete. Dieser Vorschlag wurde dann jedoch angesichts des Widerstands in der Öffentlichkeit und in der Kernexekutive aufgegeben. Hier hat jedoch kein politisches Lernen stattgefunden. Riester und Schröder gingen davon aus, dass nicht genügend »Riester-Verträge« abgeschlossen würden, um die private Rente zu einem Ausgleich für die Rentenkürzungen in der GRV zu machen. Anstatt ein anderes Modell zu entwickeln, das ohne Verpflichtung dasselbe Ziel erreichte, setzte man im Arbeitsministerium darauf, dass das Obligatorium zu einem späteren Zeitpunkt durchsetzbar werden würde, wenn die Abschlussrate bei den Riesterverträgen dramatisch unter den Erwartungen bliebe. Man kalkulierte also das Scheitern eines Teils der formulierten Reform mit ein. Insofern war auch klar, dass keine geeigneten Evaluationsmechanismen gefunden wurden, die den Erfolg der Reform hätten deutlich machen können.
Responsivität im Entscheidungsprozess der Riester-Reform Eine Grundvoraussetzung für Responsivität besteht darin, dass die zugrundeliegenden Sachverhältnisse transparent gemacht werden.
Insofern ist die Kommunikation hinsichtlich der Politikformulierung eng mit der Kompetenzdimension verbunden. Im Laufe des Reformprozesses gab es eine permanente Unzufriedenheit der Reformgegner mit den Daten, die das Arbeits- und Sozialministerium vorlegte. Hier wurde jedoch auf einen Dialog mit den Stakeholdern verzichtet. Dies zeigt sich nicht nur im Affront, das Ministerium darauf zu verpflichten, den VDR-Gegenentwurf zum Ausgleichsfaktor durchrechnen zu lassen, sondern auch daran, dass ein Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde, der die Frage klären sollte, ob das Arbeitsund Sozialministerium vor der Wahl 2002 bewusst die Rentenberechnung manipuliert hatte. Der Untersuchungsausschuss kommt in seinem Abschlussbericht zwar zu dem Mehrheitsergebnis (getragen von SPD und Grünen), dass der Vorwurf des Wahlbetrugs nicht haltbar sei. Die Arbeit des Untersuchungsausschusses zeigt dennoch, dass zum Teil mit sehr optimistischen Daten gearbeitet wurde.
Die Liste der im Untersuchungsausschuss vernommenen Zeugen legt nahe, dass die Kommunikation zwischen Arbeits- und Sozialministerium, Kanzleramt und Finanzministerium in dieser Frage sehr gut funktionierte, während sich bei den anderen Akteuren der Kernexekutive mehr und mehr Misstrauen hinsichtlich der Belastbarkeit der Daten des Riester-Ministeriums einstellte.
Wie wenig die öffentliche Resonanz analysiert wurde, zeigt sich maßgeblich am Scheitern der obligatorischen Zusatzrente. Obwohl Riester (und auch Schröder) von dem Konzept überzeugt waren, ließ es sich nicht gegen den öffentlichen Druck, den maßgeblich die BildZeitung erzeugte, durchsetzen. Hier hatte man völlig versäumt, positiv für das Konzept zu werben. Dabei wäre es recht einfach gewesen, die Vorteile einer obligatorischen privaten Rente darzustellen, wenn bewusst die Probleme der Zielgruppen angesprochen worden wären, die eine Unterversorgung im Alter fürchten müssen (u. a. Geringverdiener, Alleinerziehende, Teilzeitbeschäftigte).
Nachjustierung an den rentenpolitischen Stellschrauben Hinsichtlich der Erfolgskontrolle in der Durchsetzungsfähigkeitsdimension ist besonders auf das flexible Nachsteuern des Arbeitsministeriums zu verweisen. Um aktuelle Finanzierungsprobleme zu bewältigen, ließen sich eine Reihe von Stellschrauben justieren, von der Erhöhung des Bundeszuschusses im Rahmen der Ökosteuerreform über die Aussetzung der Rentenanpassungen bis hin zur Abschmelzung der Schwankungsreserve (vgl. Abbildung 5). Durch diese Maßnahmen wurde der politische Gestaltungsspielraum in der aktuellen Situation erheblich erweitert, da die Finanzierungsprobleme abnahmen und so Zeit für die eigentliche Reform blieb.
Gleichzeitig lässt sich der Umgang mit diesen rentenpolitischen Stellschrauben jedoch auch als verschwenderisch charakterisieren, da hier nahezu alle legalen Mittel ausgenutzt wurden. Der Handlungsspielraum für spätere Anpassungen nahm damit erheblich ab, schließ- lich führt gerade eine Verringerung der Schwankungsreserve dazu, dass die Finanzmittel, über die die GRV getrennt von den laufenden Beiträgen verfügt, immer weniger in einem realen Verhältnis zu den laufenden Kosten und ihren periodischen Schwankungen stehen. Durch die Intervention der CSU hatte sich die Akteurskonstellation innerhalb der Kernexekutive verändert. Trotz der zunächst erfolgreichen Vorgespräche mit der Union drohte diese nun mit einer Blockade der Reform im Bundesrat. Hier fand das strategische Machtzentrum in der Aufspaltung des Gesetzes in einen zustimmungspflichtigen und einen nicht zustimmungspflichtigen Teil ein sehr probates strategisches Werkzeug, um die Reform durchzusetzen.

5 Politikumsetzung: die Riester-Reform im Praxistest

Die Politikumsetzung der Riester-Reform macht deutlich, dass ein politischer Prozess nicht dann endet, wenn das entsprechende Gesetz verabschiedet ist. In den ersten drei Jahren nach der Reform wurden immer wieder Stimmen laut, die die Riester-Reform als missglückt bezeichneten, da die private Altersvorsorge nur unzureichend wahrgenommen würde (vgl. Abbildung 6). So meldete beispielsweise das Deutsche Institut für Altersvorsorge sowohl 2002 als auch 2003, die Riester-Reform sei gescheitert, da nur ein geringer Teil der Betroffenen eine Riesterförderung beantragt habe (»DIA: Riester-Reform ist gescheitert« 2003).
Diese Situation änderte sich erst, als im Zuge der Rürup-Reform die Riesterverträge für die privaten Versicherungsanbieter attraktiver wurden. Der umfassenden Veränderung des deutschen Rentensystems, die mit der Riester-Reform einsetzte (vgl. Hinrichs und Kangas 2003), wird man jedoch nicht gerecht, wenn die Umsetzung des Reformprogramms einzig auf die Zahl der Abschlüsse der privaten Riester-Verträge beschränkt wird. Anhand der Dimensionen Kompetenz, Kommunikation und Durchsetzungsfähigkeit soll im Folgenden ein elaborierteres Verständnis der strategischen Bedeutung des Umsetzungsprozesses entwickelt werden.

5.1 Ergebnisqualität der Riester-Reform

Es wurde häufig betont, die Riester-Reform habe hinsichtlich der Wirkungsorientierung versagt. In Bezug auf die private Vorsorge blieb lange Zeit die Meinung vorherrschend, die Riester-Rente sei zu bürokratisch. Frank Neuroth (u. a. Vorstandsmitglied Victoria Lebensversicherung AG) sagte beispielsweise in einem Interview: »Nicht einmal die Hälfte unserer Riester-Versicherten haben ihren Förderantrag eingereicht, weil sie sich von dem mehrseitigen Antragsformular einfach überfordert fühlen. Oder die jährliche Mitteilung der aktuellen Einkünfte. Das ist überflüssiger bürokratischer Aufwand« (»Riester-Rente vor der Renaissance?« 2003).
Obwohl diese Kritik häufig an den elf Zulassungskriterien für Riester-Produkte festgemacht wurde, ist diese Begründung wenig plausibel. Denn die geringe Zahl der Riesterverträge war nicht darin begründet, dass die Versicherungsunternehmen den Aufwand der Zulassung scheuten, sondern darin, dass den Kunden eher andere Verträge (z. B. private Lebensversicherungen) empfohlen wurden. Diesen Sachverhalt gesteht auch Neuroth ein, wenn er sagt: »Für die Versicherungswirtschaft liegt das entscheidende Problem beim Vertrieb. In der Altersvorsorge ist es so: Die Produkte werden nicht gekauft, sie werden intensiv beraten und verkauft. Das macht der Vertrieb. Dafür bekommt er Provisionen. Die werden aber bei der RiesterRente auf zehn Jahre verteilt, im Gegensatz zu allen anderen Produkten der Altersvorsorge« (»Riester-Rente vor der Renaissance?« 2003). Da seit der Änderung der Provisionsregelung die Zahl der RiesterAbschlüsse deutlich gestiegen ist, kann davon ausgegangen werden, dass das Problem weniger in einer fehlenden Wirkungsorientierung bestand als vielmehr in einer unzulänglichen Nutzung der Steuerungsinstrumente (vgl. Abbildung 6). Die vielgescholtenen Kriterien sind auch verändert worden. Allerdings wurden die ursprünglich elf Kriterien einfach formell in fünf zusammengefasst, ohne dass es zu substanziellen Änderungen kam. Aus dem Sozialministerium wird die Haltung der Versicherungswirtschaft daher noch heute als unehrlich kritisiert.
Hätte man die Rahmenbedingungen von Anfang an so gestaltet, dass die Versicherungsunternehmen noch stärker vom Vertrieb der Riester-Produkte profitiert hätten, wären vermutlich auch in den Jahren 2001 bis 2004 mehr Verträge abgeschlossen worden. Bessere Geschäftsbedingungen für die Vertreiber von Riester-Produkten bedeuten in diesem Fall jedoch eine Schlechterstellung der Versicherten, da die Zehnjahresregelung gewährleisten sollte, dass die Verträge nicht unmittelbar mit den Provisionsgebühren belastet werden, sondern von Anfang an ein Kapitalaufbau stattfindet.
Auffallend ist auch, dass in Bezug auf die private Altersvorsorge keine Umsetzungsschritte definiert wurden. Zwar ging man davon aus, dass die Abschlussrate bei den Riester-Verträgen nur langsam Abbildung 6: Zahl der Riester-Verträge Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Bundesministerium für Arbeit und Soziales, www.bmas.de/coremedia/generator/24340/property=pdf/riester__rente__entwicklung__ diagramm__stand__IV__2007.pdf steigen würde, es waren jedoch keine konkreten Maßnahmen geplant, die diesen Prozess begünstigt hätten. Diese Schritte wurden erst im Zuge der Rürup-Reform umgesetzt.
Im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge griffen die Steuerungsinstrumente wesentlich besser. Die Gewerkschaften – insbesondere die IG Bau und die IG Metall – sahen in der neuen betrieblichen Zusatzrente eine Erweiterung ihrer tarifpolitischen Kompetenzen und versuchten, durch die aktive Gestaltung solcher Rentenprogramme die Rentenkürzungen für ihre Mitglieder zu relativieren. Die Bereitschaft der Gewerkschaften, (weitere) Organisationsaufgaben im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge zu übernehmen, muss auch im Kontext der Krise der Gewerkschaften gesehen werden, da die Gewerkschaften nach neuen Feldern suchten, auf denen sie ihren Einflussverlust relativieren konnten.

5.2 Wie bürgernah ist die Riester-Rente?

Die Probleme bei der Umsetzung der Riester-Reform sind zum Teil auch in der Dimension Kommunikation zu verorten. Insbesondere die Kommunikation zwischen Politik und Bürgern gestaltete sich schwierig. Einerseits war in der Begründung der Rentenreform 2001 der Eindruck erweckt worden, es bestünde für die Versicherten unmittelbar Handlungsbedarf, um ihr persönliches Rentenniveau langfristig zu sichern. Andererseits sollten Altersvorsorgeprodukte gründlich geprüft und mit einem Zertifikat ausgestattet werden. Die Zertifizierung selbst muss als Maßnahme gewertet werden, die Probleme offenlegt und die Transparenz der Abläufe fördert, denn sie basierte auf der Einsicht, dass die Versicherungsunternehmen nicht automatisch die Produkte verkaufen würden, die langfristig für die Kunden am günstigsten wären.
Da jeder Kunde nur einen Riester-Vertrag abschließen wird, musste jedes Versicherungsunternehmen versuchen, diesen Markt frühzeitig zu besetzen. Die Zertifizierung erschien daher vom Standpunkt der Versicherer als wettbewerbsschädliche Verzögerung. Dadurch entstand die paradoxe Situation, dass die Regierung – über die Verbraucherschutzzentralen – die Bürger davor warnte, bereits 2001 Riester-Verträge abzuschließen, da sie befürchtete, die Bürger würden sich auf Produkte festlegen, die sich später als nicht förderungswürdig erweisen würden.
Die dadurch eingetretene Verunsicherung verstärkte zum Teil noch die Opposition, indem sie die Wähler davor warnte, in die Riester-Förderung einzusteigen, da diese Regelungen einen Regierungswechsel nicht überdauern würden (»Riester-Rente vor der Renaissance?« 2003). Diese mangelnde Verbindlichkeit erschwerte die Kommunikation mit den Bürgern zusätzlich, sodass im Endeffekt zwar die Probleme transparent gemacht wurden, nicht jedoch der eigentliche Ablauf der Reform.
Positiv dagegen ist hervorzuheben, dass die Rentenversicherungsträger im AVmG verpflichtet wurden, die individuellen Renteninformationen ab 2004 regelmäßig zu versenden. Damit wurde die Kommunikation zwischen Verwaltung und Bürger wesentlich verbessert. Auf der Mikroebene steigert diese Maßnahme daher mittel- und langfristig auch die Transparenz des Reformfahrplans.

5.3 Geringe Reibungsverluste bei der Umsetzung der Riester-Reform

Die Durchsetzungsfähigkeit des strategischen Machtzentrums in der Kernexekutive war in Bezug auf die Politikumsetzung der Rentenreform 2001 weitgehend gewährleistet. Der Gesetzgeber hatte die Verwaltung frühzeitig eingebunden und klare Verantwortlichkeiten geschaffen. Die Einrichtung einer »Zentralen Zulassungsstelle für Altersvermögen« (ZfA) wurde der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) übertragen, die Einrichtung einer Zulassungsstelle für die Zertifizierung von Riester-Produkten der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) in Bonn.
Nur im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge ist die Benennung von Verantwortlichen weniger eindeutig, da der Aufbau betrieblicher Altersvorsorgesysteme zwar durch einen Rechtsanspruch gesichert ist, die Organisation jedoch bei den Tarifparteien angesiedelt bleibt (bzw. bei den privaten Versicherungsunternehmen, sofern der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Wahl des Versicherungswegs freistellt). Zudem besteht keine Aufklärungspflicht des Arbeitgebers über Möglichkeiten der Entgeltumwandlung.
Im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge war dafür die Einbindung der Stakeholder gewährleistet. Die Arbeitgeber hatten die von ihnen geforderte Entgeltumwandlung bekommen und standen den Regelungen insgesamt positiv gegenüber. Die Gewerkschaften sahen trotz aller Kritik an der Riester-Reform im Bereich der zweiten Säule ein neues Betätigungsfeld, das sie konstruktiv gestalten wollten (Hegelich 2006b).
Obwohl die Versicherungswirtschaft sich kaum in den Reformprozess eingebracht hatte, reagierte sie, ebenso wie die Gewerkschaften im Kontext der betrieblichen Altersvorsorge, sehr schnell auf die Reformen. Dies spricht dafür, dass der Umgang mit den Stakeholdern an sich ausreichend geklärt war und auch die entsprechenden Informationen zur Verfügung gestellt wurden. Zwar haben sich einige Details der Reform erst im Prozess der Umsetzung – zum Teil durch die entsprechende Rechtsprechung – geklärt. Angesichts des höchst komplexen Themas, das weitreichende sozial-, steuer-, wettbewerbs- und arbeitsrechtliche Implikationen aufwies, sind solche Prozesse wohl als unvermeidliche Friktionen zu werten.

5.4 Erfolgskontrolle der Umsetzung: nach der Reform ist vor der Reform

Mit der Umsetzung der Riester-Reform ist der eigentliche Reformprozess nicht abgeschlossen. Vielmehr schließt sich mit der RürupReform unmittelbar ein neues Projekt an, das zum Teil auf neuen Zielsetzungen basiert, teilweise jedoch auch direkt den alten Reformprozess fortsetzt und korrigiert. Dieses Kontinuum von Reformen ist in der deutschen Rentenpolitik typisch (vgl. Hegelich 2006a) und auch wegen der zu beachtenden Zeiträume – die magische Schranke für die Riester-Reform war das Jahr 2040 – unvermeidlich. Für die Erfolgskontrolle bedeutet dies, dass nicht abschließend Bilanz gezogen werden kann, sondern dass stattdessen auch im Anschluss an die Umsetzung Mechanismen zu etablieren sind, die eine zukünftige Evaluation ermöglichen.
Greifen die Kontrollmechanismen der Evaluation?
Die Riester-Reform hat die fiskalischen Probleme der GRV nicht gelöst. Die finanzielle Entwicklung der GRV wurde mit Sorge beobachtet und die Regierung musste registrieren, dass weder Zeitplan noch Kosten der Reform im Hinblick auf das Leitziel der Stabilisierung des Beitragssatzes richtig kalkuliert waren (Schnabel 2003). Wie beschrieben, wurden bei der Riester-Reform zwei Ziele festgeschrieben, die auf Basis der gängigen Modellrechnungen nicht zu verbinden waren: der Beitragssatz von höchstens 22 Prozent und das Rentenniveau der GRV von 67 Prozent. Insofern war in die Rentenreform 2001 ein Mechanismus implementiert, der weitere Reformen notwendig machen würde. Ähnlich verhielt es sich mit der Zielvorgabe, 50 Prozent der Förderungsberechtigten sollten eine Riester-Rente abschließen. Auch hier war den Verantwortlichen klar, dass diese Zahl nicht erreicht werden würde. Nicht umsonst hatte man bei der Politikformulierung ja noch auf eine obligatorische Lösung gesetzt. Solche Mechanismen sollten offensichtlich dafür sorgen, dass das Thema Rente zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen werden konnte. Dann, so hoffte man in der Regierung, wäre es möglich, die vielen Punkte erneut anzusprechen, die sich in der Rentenreform 2001 aufgrund der Widerstände im politisch-administrativen System nicht durchsetzen ließen. Die Tonart des Nationalen Strategieberichts 2001, weitere Reformen seien bis 2030 nicht nötig, war somit Makulatur (vgl. Hegelich 2006a: 13; BT-Drucksache 14/9503). Es lässt sich also bezweifeln, dass tatsächlich geeignete Evaluationstechniken ausgewählt wurden.
Gleichzeitig ist jedoch festzuhalten, dass selbst die vom Ministerium ausgegebenen Evaluationskriterien Beitragssatz, Rentenniveau und vor allem die Abschlussrate eine negative Bewertung der Reform nötig gemacht hätten. Ein politischer Lernprozess ist jedoch nicht zu erkennen. Statt den Reformkurs zu modifizieren, mobilisierten die Rentenpolitiker unter Schröder alle kurzfristigen Reserven der GRV, um die Finanzierungsprobleme notdürftig zu überbrücken, in der Hoffnung, die Sozial- und Arbeitsmarktreformen der Schröder-Regierung würden insgesamt zu einem Anspringen der Konjunktur führen, wodurch sich dann auch die (kurzfristigen) Probleme bei der Rentenversicherung lösen würden. Mehrere beteiligte Akteure haben dieses Vorgehen als eine Politik des Ausblutens der GRV bezeichnet. In Einklang mit der abstrakten Logik der Sozialreformen unter Schröder wurde auch im Bereich Rente an der Devise festgehalten, dass das Ausbleiben eines Beschäftigungszuwachses keinen Zweifel an der Richtung der Reformen begründet, sondern nur zeigt, dass die Einschnitte noch nicht weit genug gehen (Hegelich und Meyer 2008). Es ist sehr zu bezweifeln, dass Gesamtkosten und -nutzen in dieser Hinsicht richtig kalkuliert wurden. Rentenexperten (insbesondere Döring 2002) haben frühzeitig darauf hingewiesen, dass auf Basis der heutigen Weichenstellung im Rentensystem die GRV zukünftig wohl nur noch eine Basissicherung wird leisten können. Die Warnungen vor solchen langfristigen Nebenwirkungen stießen jedoch auf wenig Beachtung.
Responsivität wird vertagt Die öffentliche Resonanz auf die Riester-Reform verbesserte sich im Zuge der Umsetzung des Projekts nicht. Das Kanzleramt reagierte unter anderem mit der Umstrukturierung der Regierung nach der Wahl 2002. Das Arbeits- und das Wirtschaftsministerium wurden zusammengelegt. Damit schied Riester aus der Regierung aus. Ob damit jedoch die Responsivität gestärkt wurde, ist sehr fraglich. Denn Clement stand als neuer Minister noch stärker als Riester für den Reformkurs der Regierung Schröder in der Sozialpolitik.
Interessanterweise wurde jedoch gerade in der 2. Legislaturperiode der rot-grünen Regierung der Dialog mit den Stakeholdern in der Rentenpolitik eher intensiviert. Zwar sahen die Gewerkschaften in der Zusammenlegung der Ressorts eine Provokation. Gleichzeitig wurde jedoch über die Rürup-Kommission für eine Einbindung der Sozialpartner in die Rentenpolitik gesorgt, die zwar nicht den alten korporatistischen Strukturen entsprach – das Bündnis für Arbeit war gescheitert –, die dafür aber konstruktiv funktionierte und somit auch den Gewerkschaften wieder eine Stimme in der Rentenpolitik gab.
Die Riester-Reform sollte von ihrem Anspruch her eine Weichenstellung für das Rentensystem insgesamt sein (BT-Drucksache 14/ 9503). Da die Akteure – insbesondere das Kanzleramt – an dieser Vorstellung festhielten, blieb eine zielgruppenspezifische Nutzung von Evaluationsergebnissen weitgehend aus. Erst in jüngster Zeit ist festzustellen, dass es innerhalb der Kernexekutive ein Bewusstsein dafür gibt, dass das deutsche Rentensystem als Folge der Reformen deutlich an Universalität eingebüßt hat und dass künftig auf die speziellen Bedürfnisse unterschiedlicher Gruppen – wie zum Beispiel der neuen Selbstständigen – einzugehen sein wird.
Handlungsspielräume werden aufgebraucht
Die Umsetzung der Riester-Reform entzog sich hinsichtlich der Durchsetzungsfähigkeitsdimension völlig einer Erfolgskontrolle. Durch die Reform hatten sich die Fronten in der Rentenpolitik extrem verhärtet. Gerade die Erfolge in der Dimension der Durchsetzung, die das strategische Machtzentrum errungen hatte, führten nun dazu, dass nahezu alle strategischen Handlungsspielräume bereits ausgeschöpft waren. Ein flexibles Nachsteuern an irgendeiner Stelle hätte jedoch nicht nur die Riester-Reform, sondern auch die gesamte Linie der schröderschen Sozialpolitik in Frage gestellt. Die einzige praktische Möglichkeit bestand darin, selbst für eine Veränderung der Akteurskonstellation zu sorgen. Einen wichtigen Versuch in diese Richtung stellte die Rürup-Kommission dar. Dieser Schritt wäre jedoch eigentlich als Bestandteil der Politikformulierung und -entscheidung im Zuge der Rürup-Reform zu analysieren. Ein Mechanismus zur Erfolgskontrolle lässt sich daher nur ex post vermuten und zwar in der Hinsicht, dass die Regierung sich bemühte, das Thema Rente nicht wieder zu einer großen Debatte werden zu lassen.

6 Fazit

Die Rentenreform 2001 kann als Beispiel für strategische Reformpolitik gelten, die konsequent auf Durchsetzungsfähigkeit setzt und dabei zum Teil die Kompetenz- und Kommunikationsdimension auffallend vernachlässigt. Teilt man die Einschätzung, dass es sich bei der Rentenreform 2001 um den Einstieg in einen generellen Systemwechsel gehandelt hat, so lässt sich folgende Vermutung anstellen: Sowohl die Polarisierungen, die im Zuge des Reformprozesses vorgenommen wurden, als auch die starken Widerstände der Reformgegner waren nicht nur auf die Reforminhalte selbst gerichtet, sondern verdeutlichen darüber hinaus eine Abkehr von den eingerichteten Verhandlungsinstitutionen. Der eingeleitete Systemwechsel ging einher mit dem Aufbrechen der korporatistischen Struktur des deutschen Rentensystems (Schubert 2004; Hegelich 2007).
Gerade im Politikfeld Rente sind die Dimensionen Kompetenz und Kommunikation traditionell besonders wichtig. Die Komplexität des Themas ist enorm, weil finanzpolitische, versicherungsmathematische, demographische und juristische Fragen kombiniert werden müssen und die Auswirkungen auf die nächsten Generationen zu berücksichtigen sind. Kommunikation mit den Stakeholdern gilt als absolut entscheidend, da Rentenreformen beim Median-Wähler als unpopulär gelten und die Sozialpartner fest in das deutsche Rentensystem integriert sind.
Die Betonung der Dimension der Durchsetzungsfähigkeit in der strategischen Rentenpolitik ist daher ein Novum in der Entwicklung des deutschen Rentensystems – und gleichzeitig herrscht inzwischen Einigkeit darüber, dass gerade die Riester-Reform den Systemwechsel in Rentenfragen einleitete. Es lässt sich demnach folgende These formulieren: Ein Systemwechsel in der Sozialpolitik geht einher mit einer deutlichen Umgewichtung der strategischen Dimensionen. Interessanterweise wurde die Rentenreform 2001 durch die Rü- rup-Reform ergänzt. Dieser Reformprozess betont viel stärker als die Riester-Reform die Dimensionen Kompetenz und Kommunikation. Es lässt sich daher – mit aller Vorsicht – argumentieren, dass der wirkliche Erfolg der strategischen Rentenpolitik der rot-grünen Regierung erst durch nachträgliche Umsteuerung insbesondere hinsichtlich des Reformstils erreicht werden konnte. Die Rürup-Kommission war zwar deutlicher Kritik ausgesetzt, diese bezog sich jedoch in erster Linie auf die Arbeitsgruppe Gesundheit, die nur mit großer Anstrengung überhaupt einen gemeinsamen Vorschlag hervorbrachte. In der Arbeitsgruppe Rente hingegen verliefen die Diskussionen wesentlich konstruktiver.
Die strategische Reformpolitik im Politikfeld Rente weist somit eine eigentümliche Dualität von Konflikt- und Verhandlungsstrategien auf. Die Analyse der Rentenreform 2001 macht eindrucksvoll deutlich, dass Entscheidungen nicht prinzipiell auf Einigungen basieren. Gleichzeitig scheint es aber auch nicht möglich zu sein, involvierte Interessen dauerhaft im Sinne von »pressure politics« zu übergehen.
Eine genauere Untersuchung der strategischen Dimension in der Rentenpolitik, die verschiedene Reformen bündelt, könnte daher an das Konzept des politisch limitierten Pluralismus anknüpfen. Die Idee des politisch limitierten Pluralismus ergab sich aus dem Vergleich von 25 Länderstudien zu den nationalen Wohlfahrtssystemen (Schubert, Hegelich und Bazant 2008). Zusammengefasst sind darin folgende Behauptungen enthalten:
– erstens, dass die Frage der Wohlfahrt in erster Linie ein Feld der nationalen Politik und politischen Auseinandersetzung ist;
– zweitens, dass die Nationalstaaten mit ihren Wohlfahrtssystemen auf Konflikte reagieren, die gesellschaftlichen Unterschieden entspringen – wie Zugang zu Ressourcen, Klassenlage, Geschlecht bzw. Geschlechterrolle, Alter, zum Teil auch ethnische und/oder regionale Unterteilungen, ohne jedoch diese problematische Pluralität aufzuheben; und
– drittens, dass ein immenser gesamtgesellschaftlicher Aufwand betrieben wird, um die Auswirkungen dieser Unterschiede soweit abzumildern, dass Kompromisse, Kooperation und Koordination möglich werden (Hegelich und Schubert 2008: 650).
Grundlegend ist dabei die Idee, dass die Eigenheiten europäischer Wohlfahrtspolitik weder auf der Ebene fester Strukturen und Institutionen noch anhand der Ergebnisse (outcomes) analysiert werden können, sondern sich stattdessen im Reformprozess selbst ergeben. Die Analyse der Riester-Reform mithilfe des SPR liefert dazu einen wichtigen Beitrag. Denn sie zeigt nicht nur die strategischen Stärken und Schwächen des Reformprozesses selbst auf, sondern kann damit auch ein Fallbeispiel für eine Reform liefern, in der ein fundamentaler Wechsel auf der Policy-Ebene einhergeht mit einer Neuausrichtung der Politics-Ebene.
Selbstverständlich können aus Einzelfallstudien nur sehr begrenzt Verallgemeinerungen abgeleitet werden. Die Analyse der strategischen Politik in den Rentenreformen unter Gerhard Schröder erlaubt jedoch die Formulierung von Fragen, die sowohl für die praktische Gestaltung von strategischer Politik als auch für die wissenschaftliche Analyse von großer Bedeutung sind.

  • Unter welchen strategischen Bedingungen kann ein Systemwechsel in der Sozialpolitik durchgesetzt werden?
  • Was sind die Kosten eines Strategiewechsels?
  • Welchen Einfluss hat die strategische Ausrichtung eines Reformprozesses auf nachfolgende Reformen?

Die weitere Nutzung des Strategietools für politische Reformprozesse in Wissenschaft und Politik könnte zur Beantwortung dieser Fragen einen großen Beitrag leisten.